Nachtsplitter
ausdem Weg zu gehen. Ich hatte in der Schule nicht zu ihm hingesehen, war nicht in das Eiscafé am Markt gegangen, hatte mir verboten,
an ihn zu denken. Aber ich hatte jede Nacht von ihm geträumt. Und heute Morgen hatte ich beschlossen, dass es genug war. Ich
hatte mein neues Handy genommen und ihn angerufen. Ich musste ihn einfach sehen. Trotz Jakobs Protest waren wir zur Autobahnbrücke
geradelt. Ich musste hier noch etwas erledigen. Und dabei wollte ich nicht allein sein.
»Komm, wir fahren wieder«, sagte Jakob. »In einer halben Stunde muss ich bei der Arbeit sein.«
»Gleich.« Die Kamera war immer noch auf sein Gesicht gerichtet. Er strich sich die Haare aus der Stirn. »Wo haben wir am Abend
des Unfalls eigentlich genau gestanden?«
Jakob zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Da drüben, glaube ich.« Er zeigte auf eine Stelle am Geländer und ich folgte
seiner Handbewegung mit der Kamera. Ich filmte den Asphalt, auf dem Pia und ich gesessen hatten, und das Geländer, an dem
die Jungs gelehnt und Zigarettenkippen auf die Autobahn geschnippt hatten. Dann schwenkte ich weiter, zu der Stelle, an der
das zerstörte Auto gestanden hatte. Von dem Unfall war nichts mehr zu sehen. Abgesehen von zwei dunklen Bremsspuren auf der
Fahrbahn. Die Leitplanke war bereits ausgebessert worden. Ich zoomte das Metallstück heran, das ein bisschen heller aussah
als der Rest.
»Was soll das Ganze, Jenny?«, fragte Jakob.
»Eine Art Bestandsaufnahme«, erklärte ich. »Um zu sehen, was vom Unfall noch übrig ist.« Ich filmte ein paar Glassplitter,
die auf der anderen Seite der Leitplanke im Gras glitzerten. Sie konnten natürlich genauso gut schon vor dem Unfall dort gelegen
haben.
»Warum tust du das? Das ist doch total morbide!«
Ich schwenkte wieder zurück zu Jakob. »Weil ich's jemandem versprochen habe.«
Jakob runzelte die Stirn. Er schien sich unbehaglich zu fühlen. »Das verstehe ich nicht.«
»Musst du auch nicht.« Ich steckte das Handy weg. »Komm, wir fahren zurück in die Stadt, dann kannst du mir ein Eis ausgeben.«
Ich streckte die Hand aus. Unsere Finger verflochten sich miteinander. Plötzlich fühlte ich mich ganz leicht. Und ich fragte
mich, wann ich zuletzt so glücklich gewesen war.
2
Wir stellten unsere Fahrräder hinter dem Café ab. Ich wollte schon hineingehen, aber Jakob hielt mich zurück.
»Warte.« Er zog mich in seine Arme und küsste mich sanft.
Ich schloss die Augen und spürte, wie ich von einer Woge des Glücks davongetragen wurde. Am liebsten hätte ich die Zeit angehalten.
Doch irgendwann lösten sich unsere Lippen wieder voneinander. Benommen schlug ich die Augen auf.
Jakob lächelte. »Das wollte ich schon die ganze Zeit tun.«
»Und warum hast du so lange gewartet?«
»Die Autobahnbrücke schien mir nicht der richtige Ort dafür zu sein.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Er griff nach
meiner Hand. »Komm, wir gehen rein. Sonst krieg ich noch Ärger mit meinem Chef.«
Hand in Hand betraten wir das Café. Bei dem schönen Wetter war drinnen kaum etwas los, alle wollten draußen in der Sonne sitzen.
Nur ein Tisch am Fenster war besetzt. Dort saß ein Mädchen mit langen blonden Haaren und studierte die Eiskarte. Sie sah auf,
als wir reinkamen. Ich blieb wie angewurzelt stehen und ließ Jakobs Hand los.
Pia.
»Geh rüber und rede mit ihr.« Jakobs Fingerspitzen berührten sanft meinen Rücken. »Ich bin gleich wieder da.« Er verschwand
in einem Hinterzimmer.
Ich hatte nicht mit Jakob über den Streit mit Pia gesprochen, aber er hatte es natürlich mitbekommen. Es war vermutlich niemandem
aus unserer Klasse entgangen, dass zwischen Pia und mir etwas nicht stimmte. Wir redeten nur noch das Nötigstemiteinander, gingen uns in der Pause aus dem Weg, kamen morgens getrennt und achteten darauf, uns nach dem Unterricht nicht
bei den Fahrradständern zu begegnen. Und jetzt trafen wir uns hier im Café. Zufall oder Schicksal?
Pias Blick war wieder auf die Eiskarte gerichtet. Ihre Haare hingen wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht. Wollte sie allein sein?
Ich zögerte. Dann gab ich mir einen Ruck und ging langsam durch das Café. Vor ihrem Tisch blieb ich stehen.
»Darf ich?«
Pia klappte die Eiskarte zu. Sie nickte.
Ich setzte mich. »Was machst du hier?«
Pia zuckte mit den Schultern. »Ich hatte Lust auf ein Eis. Ist doch nicht verboten, oder? Und du? Sonntagsausflug mit deinem
neuen Lover?« Ihr Gesichtsausdruck war
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