Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
auswählen, arrangieren, retouchieren, lügen. Das Tückische war, daß die Auslassungen, Verzerrungen und Lügen später nicht mehr zu erkennen waren. Es gab keinen Standpunkt außerhalb des Gedächtnisses.
Ein gewöhnlicher Mittwochnachmittag in der Stadt, in der er sein Leben verbracht hatte. Was sollte er damit anfangen?
Die Worte des muselmanischen Geographen El Edrisí über das Ende der Welt. Gregorius holte die Blätter, auf denen er seine Worte in Finisterre ins Lateinische, Griechische und Hebräische übersetzt hatte.
Plötzlich wußte er, was er tun wollte. Er wollte Bern fotografieren. Festhalten, womit er all die Jahre gelebt hatte. Die Gebäude, Gassen, Plätze, die viel mehr gewesen waren als nur die Kulisse seines Lebens.
Im Fotogeschäft kaufte er Filme, und die Zeit bis zur Dämmerung ging er durch die Straßen der Länggasse, in denen er seine Kindheit verbracht hatte. Jetzt, wo er sie aus verschiedenen Winkeln und mit der Aufmerksamkeit des Fotografen betrachtete, waren sie ganz anders, diese Straßen. Er fotografierte bis in den Schlaf hinein. Manchmal wachte er auf und wußte nicht, wo er war. Wenn er dann auf dem Bettrand saß, war er nicht mehr sicher, ob der distanzierte, berechnende Blick des Fotografen der richtige Blick war, um sich die Welt eines Lebens anzueignen.
Am Donnerstag machte er weiter. In die Altstadt hinunter nahm er den Aufzug von der Universitätsterrasse und den Weg durch den Bahnhof. So konnte er den Bubenbergplatz vermeiden. Film nach Film wurde voll. Das Münster sah er, wie er es noch nie gesehen hatte. Ein Organist übte. Das erstemal seit der Ankunft kam der Schwindel, und Gregorius hielt sich an der Kirchenbank fest.
Er brachte die Filme zum Entwickeln. Als er dann zum Bubenbergplatz ging, war es, als nähme er Anlauf zu etwas Großem, Schwierigem. Beim Denkmal blieb er stehen. Die Sonne war verschwunden, ein gleichmäßig grauer Himmel wölbte sich über der Stadt. Er hatte erwartet, er würde spüren, ob er den Platz wieder berühren konnte. Er spürte es nicht. Es war nicht wie früher, und es war nicht wie bei seinem kurzen Besuch vor drei Wochen. Wie war es? Er war müde und wandte sich zum Gehen.
»Wie hat Ihnen das Buch des Goldschmieds gefallen?«
Es war der Buchhändler aus der spanischen Buchhandlung. Er gab Gregorius die Hand.
»Hat es gehalten, was es versprach?«
Ja, sagte Gregorius, durchaus.
Er sagte es steif. Der Buchhändler merkte, daß ihm nicht nach Reden war, und verabschiedete sich schnell.
Im Kino Bubenberg hatte das Programm gewechselt, die Verfilmung von Simenon mit Jeanne Moreau war abgesetzt.
Gregorius wartete ungeduldig auf die Filme. Kägi, der Rektor, bog in die Gasse ein. Gregorius stellte sich in den Eingang eines Geschäfts. Es gibt Momente, da sieht meine Frau aus, als zerfalle sie , hatte er geschrieben. Jetzt war sie in der Nervenklinik. Kägi sah müde aus und schien kaum wahrzunehmen, was um ihn herum geschah. Für einen Moment spürte Gregorius den Impuls, mit ihm zu reden. Dann war die Empfindung vorbei.
Die Filme kamen, er setzte sich im Hotel Bellevue ins Restaurant und öffnete die Umschläge. Es waren fremde Bilder, sie hatten nichts mit ihm zu tun. Er tat sie zurück in die Umschläge, und während des Essens versuchte er vergeblich herauszufinden, was es war, das er sich erhofft hatte.
Auf der Treppe zu seiner Wohnung erfaßte ihn heftiger Schwindel, und er mußte sich mit beiden Armen am Geländer festhalten. Danach saß er den ganzen Abend neben dem Telefon und stellte sich vor, was unweigerlich geschehen würde, wenn er Doxiades anriefe.
Kurz vor dem Einschlafen bekam er jedesmal Angst, in Schwindel und Bewußtlosigkeit zu versinken und ohne Erinnerung aufzuwachen. Während es über der Stadt langsam hell wurde, versammelte er all seinen Mut. Als die Sprechstundenhilfe von Doxiades erschien, stand er bereits vor der Praxis.
Der Grieche kam ein paar Minuten später. Gregorius wartete auf ein ärgerliches Erstaunen wegen der neuen Brille. Doch der Grieche kniff nur einen Augenblick lang die Augen zusammen, ging ihm voran ins Sprechzimmer und ließ sich dann alles über die neue Brille und den Schwindel erzählen.
Erst einmal sehe er keinen Grund zur Panik, sagte er schließlich. Aber es seien eine Reihe von Tests nötig, und man müsse die Sache in der Klinik eine Weile beobachten. Er griff zum Hörer, ließ die Hand darauf ruhen und sah Gregorius an.
Gregorius atmete einige Male ein und aus, dann
Weitere Kostenlose Bücher