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Nachtzug

Titel: Nachtzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood , Gareth Wootton
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dazu.«
    »Sie können uns doch nicht einfach alle töten!«
    »Nein, so verschwenderisch gehen die Nazis auch wieder nicht mit {233} Menschenleben um. Uns Polen werden sie als Sklaven benutzen. Zumindest bis wir alle tot umfallen.«
    Plötzlich verlor sie völlig die Fassung und brach an seiner Brust in Tränen aus. Er legte die Arme um ihren schlanken, zitternden Leib und wartete geduldig, bis sie sich wieder beruhigte. Es bedrückte ihn sehr, daß er sie mit solch grauenhaften Berichten belasten mußte.
    »Ich fühle mich, als wäre ich eben erst aus einem furchtbaren Traum aufgewacht«, schluchzte sie, während sie sich von ihm zurückzog und sich die Tränen abtrocknete. »Diese armen Menschen! Und du mußtest dir alles mitansehen!«
    Er kniff die Augen zusammen. Nein, er hatte ihr noch nicht einmal alles gestanden. Er brachte es einfach nicht übers Herz. Die medizinischen Experimente in Auschwitz, abstoßende Versuche an Insassen, die mehr der Folter als der Wissenschaft dienten. Und der beliebte Zeitvertreib von Offizieren, der darin bestand, jüdischen Mädchen Strychnin zu injizieren und sich an ihrem Todeskampf zu weiden. Die allerscheußlichsten Taten hatte er ihr eigentlich vorenthalten, denn davon zu wissen, hätte sie nur noch mehr bedrückt. Es reichte, daß Anna das Wesentliche des Alptraums begriff.
    »So, jetzt weißt du alles, Anna, meine Liebste«, flüsterte er. »Die ganze Geschichte. Vergib mir, daß ich dir wehgetan habe.« Während sie ihre letzten Tränen abtrocknete, blickte sie ihn zärtlich an. Hans lebend wieder zu haben, bedeutete für sie ein Wunder. »Laß mich dir helfen«, bat sie leise, aber inständig. »Laß mich dir und den Ärzten helfen.«
    »Nein«, antwortete er energisch. »Sie dürfen niemals erfahren, daß du weißt, was sie tun. Selbst ich, der ich ihnen einen Eid geleistet habe, mußte ›sterben‹, damit sie ihren Plan fortführen konnten. Was sollten sie mit noch jemandem anfangen, der ihr Geheimnis kennt? Ich befürchte sogar, daß sie die Sache ganz aufgeben würden, aus Angst, du könntest sie verraten. Ein Geheimnis, das von fünf Menschen geteilt wird, ist doch eigentlich keins mehr, oder? Und ich werde sie nicht um ihr Gefühl der Sicherheit bringen. Nicht nach allem, was sie für mich getan haben.«
    Sie nickte zustimmend und fügte dann hinzu: »Aber wenn du etwas brauchst,
moy
Hans, aus dem Krankenhaus oder woher auch immer, und wenn ich helfen kann, dann laß es mich bitte wissen.«
    {234} Er gab keine Antwort, denn er wurde plötzlich von der Zartheit ihres unschuldigen Gesichts und ihrer sanften Stimme überwältigt. Er legte die Arme um sie, drückte leicht gegen ihre Schultern und zog sie dann noch einmal auf sich.
     
    Rudolf Bruckner stand im Labor, die Arme in die Seiten gestemmt. Seine neueste Erkenntnis war besorgniserregend. Äußerst besorgniserregend.
    Gestern hatte er seine Vorräte an Erlenmeyer-Kolben gezählt. Heute fehlte einer. Und er konnte ihn nirgendwo finden. Zwar hatte er immer noch keinen Hinweis auf die Widerstandskämpfer gefunden, die sich in der Umgebung versteckten. Aber falls das medizinische Personal von Sofia an einem subversiven Plan beteiligt war, war er mehr denn je entschlossen, herauszufinden, um wen es sich handelte und was sie vorhatten.
    Er verließ das Labor und ging den Gang hinunter, der zum Büro Jan Szukalskis führte.

19
    Die Widerstandskämpfer wechselten sich jeden Tag bei der Beobachtung des Depots ab und stellten fest, daß ständig mehr und mehr Benzin und Waffen für die Frühlingsoffensive herantransportiert wurden. Trotz der Quarantäne ging es im Depot gewohnt lebhaft zu. Versiegelte Züge fuhren, unter strikter Einhaltung der Hygienemaßnahmen gegen Fleckfieber, ein und aus.
    »Wie auch immer«, meinte Brunek Matuszek eines Abends, »die Deutschen können nichts heraustransportieren, solange die Quarantäne nicht aufgehoben wird. Es ist eine Sache, Vorräte zu bringen, aber eine andere, sie weiterzuverschicken. Die Deutschen werden es nicht riskieren, Fleckfieber an die Ostfront zu verschleppen, die ja sowieso schon in Bedrängnis ist.«
    »Wie lange wird die Quarantäne dauern?« fragte Każik Skowron.
    »Es gibt keine Möglichkeit, es zu erfahren. Aber eins ist gewiß: Die Deutschen dürften eine Großoffensive gegen die Russen planen, so {235} bald der Frühling anbricht. Deshalb häufen sie so viel Treibstoff und Waffen an, und deshalb müssen wir uns auch beeilen. Sobald die Quarantäne

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