Nachtzug
nicht fliehen?« ließ sich Anna leise vernehmen.
»Für uns gibt es kein Entrinnen«, entgegnete Maria, deren blasses {287} Gesicht sich gespenstisch gegen ihren schimmernden Haarkranz abzeichnete. »Wir haben jedermann glauben lassen, daß die schlimmste Fleckfieberepidemie aller Zeiten hier in Sofia wütet. Wenn wir davonlaufen, werden die Deutschen sofort wissen, daß es ein Schwindel war, und als Vergeltung werden sie möglicherweise jeden einzelnen Bewohner der Stadt umbringen. Doch wenn wir bleiben, dann können wir immerhin hoffen, daß die Nazis sich damit zufriedengeben, nur uns zu bestrafen.«
Jan Szukalski nickte ihr anerkennend zu. Er war voller Bewunderung für ihren Mut. Doch er erkannte auch die offenkundige Angst in ihrem Gesicht.
»Aber sie würden doch wohl nicht eine ganze Stadt auslöschen, oder?« wandte Anna ein, die sich ängstlich an Kepplers Hand klammerte. »Ich meine, die ganze Stadt …«
»Ihr habt doch alle von einem Mann namens Reinhard Heydrich gehört«, ergriff der Priester das Wort. »Er war Himmlers Stellvertreter und seine rechte Hand. Im Juni letzten Jahres wurde er in den Straßen von Prag ermordet, und man vermutete, daß die Attentäter aus dem nahegelegenen Dorf Lidice stammten. Die SS -Truppen übten daraufhin grausame Vergeltung. Sie fielen in Lidice ein, machten das Dorf dem Erdboden gleich, töteten alle Männer, verschleppten die Frauen in Konzentrationslager und verteilten die Kinder auf Lebensborn-Familien. Das geschah vor einem Jahr. Heute weist nichts mehr darauf hin, daß dort einst ein Dorf gestanden hat.«
»Oh, mein Gott …«
»Maria hat recht«, meinte Jan. »Wir müssen bleiben. Jetzt zusammenzupacken und davonzulaufen würde die Deutschen auf Dinge aufmerksam machen, die sie vielleicht noch gar nicht wissen.«
»Woran denken Sie?«
»Ich meine, vielleicht vermuten sie ja gar keine Scheinepidemie. In der Mitteilung war davon jedenfalls nicht die Rede. Vielleicht kommen sie überhaupt nicht, um uns zu überprüfen. Bedenkt, daß mit der Abriegelung dieser ganzen Gegend auch das Munitionsdepot stillgelegt worden ist. Ich möchte wetten, daß sie herkommen, um eine Möglichkeit zu suchen, es wieder nutzbar zu machen.«
»In Ordnung. Jan, aber was, wenn sie nun doch irgendwie hinter den Schwindel gekommen sind?« fragte Piotr Wajda.
{288} »Piotr, wenn die Deutschen eine inszenierte Fleckfieberepidemie vermuten, dann denken sie, daß wir dazu Blutproben von echten Fleckfieberfällen auf mehrere Proben verteilen und sie mit den Namen anderer Leute versehen. Sie wissen nichts von Proteus. Da bin ich mir sicher. Wahrscheinlich haben sie vor, die wahren Fleckfieberopfer bewußt zu meiden und nur von scheinbaren Fleckfieberfällen stichprobenweise Blut zu nehmen. Sie versprechen sich wohl davon, mit einer Menge negativer Ergebnisse aufwarten zu können.«
»Aber was ist, wenn sie nun doch über Proteus Bescheid wissen?« wandte Keppler ein.
»Der einzige Weg, wie sie von unserem Impfstoff hätten erfahren können, wäre, daß jemand das Geheimnis ausgeplaudert hätte. Doch das bezweifle ich, denn jedermann in Sofia erinnert sich nur zu gut an die Hinrichtung der Partisanen auf dem Marktplatz. Unser Geheimnis ist gewiß wohlbehütet.«
»Aber wenn das Geheimnis nun doch durch irgendeinen Zufall nach draußen gedrungen ist, dann gibt es für uns keine Hoffnung mehr«, erwiderte der Priester.
»Dann sollten wir fliehen«, sagte Anna wieder.
Dr. Szukalski schüttelte den Kopf. »Das dürfen wir nicht. Wir haben dieser Stadt gegenüber eine Verantwortung übernommen. Wir haben ihre Bewohner in etwas hineingezogen, an dem wir allein die Schuld tragen. Wir können sie jetzt nicht im Stich lassen, erst recht nicht, da wir wissen, was in Lidice passiert ist. Wenn die Deutschen unseren Schwindel tatsächlich aufdecken, bleibt uns nur die Hoffnung, daß sie ihre Wut nur an uns fünfen auslassen und es dabei bewenden lassen.«
»Was ist mit Dolata und seinem Rat?« fragte Piotr Wajda.
»Ich habe keinem von ihnen je Einzelheiten über unser Vorgehen verraten. Sie wissen nur, daß wir eine Möglichkeit gefunden haben, bei den Labortests falsch positive Ergebnisse herbeizuführen. Wenn Edmund Dolata verhört wird, kann er den Deutschen keine einzige entscheidende Information geben.«
Anna sah mit großen, ängstlichen Augen zu ihm auf. »Was werden wir tun?«
Jan Szukalski musterte die Gesichter seiner Gefährten und staunte über den Mut, den er darin
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