Nackt unter Wölfen
diskutierten Pläne für diesen Augenblick, der nun gekommen schien. Sollte man evakuieren lassen und 50 000 Menschen unweigerlich in den Tod schicken? Oder sollte man …
Bogorski riss die Schublade des Tisches auf, entnahm ihr eine Landkarte von Deutschland, die er auf dem Tisch ausbreitete, und winkte Bochow zu sich.
Sein Finger fuhr an der Oder entlang und blieb bei Küstrin hängen. »Hier ist Rote Armee.« Er drückte den Finger auf einen Punkt. »Berlin!« Bis dahin sei es nur noch ein kurzer Weg, erklärte er und verglich die östliche mit der westlichen Front. Im Westen zog sich die Linie von Paderborn nach Wildungen, Treysa, Hersfeld, Fulda. Ohne Zweifel, der Stoß ging nach Thüringen hinein, über Kassel, Eisenach, Erfurt. Wieder drückte Bogorski den Finger auf einen Punkt. »Weimar …«, und er ergänzte: »Buchenwald!« Doch vom Westen aus sei der Weg nach Berlin um vieles länger als vom Osten her. Wer Berlin habe, der habe auch den Sieg über Hitlerdeutschland.
»Werden aber {lassen die Amerikaner und Engländer, was sind Länder von Kapitalismus, den Sieg an die Sowjetunion?} Njet.«
Bogorski schaufelte mit breiten Händen die Fronten vom Westen und Osten auf der Karte nach dem Zentrum Berlin zusammen.
»Darum werden Amerikaner sehr schnell, weil sie noch haben weiten Weg bis Berlin und wird sein die Zeit sehr kurz.«
Bochow nickte verstehend. Bogorski wollte in seinemschwerfälligen Deutsch ausdrücken, dass der Amerikaner alles daransetzen würde, zur gleichen Zeit mit der Roten Armee in Berlin zu sein. Mit einem raschen Vordringen auf Thüringen zu musste gerechnet werden. Das würde einen Wettlauf geben. Wer würde schneller sein? Der Amerikaner oder die Faschisten mit der Evakuierung?
»Und wir stecken mittendrin«, lächelte Bochow schmerzvoll und seufzte. – »Das kommt nun alles auf einmal zusammen! Wir müssen uns noch heute Abend mit dem ILK besprechen, denn was wir jetzt zu tun haben, das können wir zwei nicht allein entscheiden.«
Bochow setzte sich auf den Schemel zurück und baute vor Bogorski seine Gedanken auf: »Da kommt so ein kleines Ding ins Lager – ja, ja, ich weiß, Leonid, ich weiß – so meine ich es nicht. Aber überlege doch mal: zuerst gehen Höfel und Kropinski in den Bunker.
Deswegen!
Wir müssen den ganzen Apparat lahmlegen.
Deswegen!
Jetzt schleppen sie zehn Mann von der Effektenkammer {zur Gestapo}.
Deswegen!
Es ist zum Verzweifeln!«
Bogorski hörte wortlos zu, mochte sich Bochow seine Not vom Herzen reden. Der setzte noch einen Gedanken obenauf.
»An dem Kind, Leonid, an dem Kind hängt alles. Solange sie es nicht finden, bleibt Höfel stark und auch Kropinski und auch die zehn Mann. Aber wenn sie das Kind finden …?
Mensch! Du weißt doch, wie es dann geht! Das ist eine alte Weisheit. An dem Kind hat Höfel sich stark gemacht. Sie brauchen es ihm nur zu bringen: Da, wir haben es, nun aber raus mit der Sprache! – Ich sage dir, dann klappt er zusammen. Und dann? Was dann? –«
Bochow presste sich die Hände an die Schläfen. »Es wissen schon viel zu viele um das Kind. Darin liegt die Gefahr! Das ist nicht mehr zu ändern«, sagte er müde, »wir sind nun mal mittendrin und müssen uns bewegen, so gut es geht.«Bochow knöpfte sich den Mantel zu, er war wieder ganz bei der Sache. »Damit du Bescheid weißt, ich rufe das ILK noch heute Abend zusammen.«
Er wollte gehen, verhielt einen Augenblick und meinte resigniert: »Auch das ist gefährlich geworden. Aber wir können darauf keine Rücksicht mehr nehmen.« Sie gaben sich stumm die Hand.
Lange noch, nachdem er allein war, grübelte Bogorski nach einem Ausweg. Es wussten schon zu viele um das Kind. Darin lag wirklich eine ernste Gefahr! Bis zu Zidkowski reichte schon die Kette derer, die mit dem Kind zu tun hatten. Die Kette musste abgerissen werden. Es galt, die Genossen vor sich selbst zu schützen. Abreißen die Kette, dachte Bogorski, aber wie?
Über eine Stunde schon war Pippig fort, und Rose hockte noch immer auf dem Schemel. Wie lange noch, dann war er an der Reihe. {»Rose, zur Vernehmung!«} Eine wilde Angst überkam ihn. Rose sah sich bereits dem Gestapomann gegenüber.
»Herr Kommissar, ich bin eigentlich ganz harmlos. Ich habe meine Arbeit gemacht und weiter nichts.« Weil es ihm angenehm erschien, ließ er sich von dem vorgestellten Kommissar fragen: »Wie lange sind Sie schon im Lager?«
»Acht Jahre, Herr Kommissar.«
»Acht Jahre! {Tststs …} Wie haben Sie das nur
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