Nackt unter Wölfen
starke Triumphgefühl. Das Blut floss aus den kraftgespannten Muskeln zurück, Krämer ließ die Arme sinken und stand auf. »Lass, Herbert, lass. Ich muss erst fertigwerden mit dem da drinnen«, sagte er warm und strich sich mit breiten Händen über die Brust. Er ging um den Tisch herum und legte Bochow still die Hände auf die Schultern. »Unsere beiden im Bunker … sie leben noch. – Ich weiß es. Ich weiß noch mehr. Wir können die 46 Kumpels aus ihren Löchern herausholen, nach ihnen sucht keiner mehr.«
»{Weißt du es} Bestimmt?«
»Bestimmt.«
Krämer atmete tief, und die Falte über der Nase grub sich hart ein: »Jetzt geht es rund! – Bis morgen früh muss ich einen Transport von 10 000 Mann fertig machen. Vielleicht gelingt es mir, den Abmarsch bis zum Mittag-Alarm hinzuziehen. Dann haben wir Stunden gewonnen.«
»Tu, was du kannst, Walter.«
Plötzlich aber fragte Krämer übergangslos: »Wo ist das Kind? Wo ist es, Herbert?«
»Ich weiß es nicht.«
Krämer prüfte in Bochows Gesicht die Echtheit der Versicherung.
»Such nach ihm!«, herrschte er finster.
»Warum?«
»Warum?«, warf Krämer die Frage gereizt zurück. Er setzte sich an den Tisch, schaute auf seine übereinandergelegten Hände und wurde leise: »Zu viel schon hat uns das Wurm gekostet. Nun soll es bei uns sein, wie die anderen auch, wie Höfel, Kropinski, die 46, du, ich … Es soll mit uns marschieren oder mit uns verrecken. Aber es soll her!« Hart schlug er mit der Faust auf. »Her soll es! Such es!«
Bochow schwieg. Er verstand den Freund, und der fordernde Ton widerhallte ihm im Herzen.
Rau und voller Grimm zerstörte Krämer Bochows Schweigen:»Einer von euch hat es doch weggeschleppt. Einer vom ILK! Wer?«
{Bochow hob die Schultern.
»Suche! Schaffe das Kind herbei. Holen wir unsere Kumpels aus ihren Löchern, dann soll auch das Kind} nicht länger … wer weiß, wo es haust.«
Bochow seufzte und nickte: »Du hast recht, Walter. Warum soll es nun nicht mit uns marschieren oder … Du hast recht, Walter. Ich will versuchen herauszubekommen, wo es steckt.«
Krämer erhob sich langsam, um vieles milder und versöhnt.
Als wuchtiger Schlag ging der Befehl zum Abtransport auf die davon betroffenen Blocks nieder. Die Blockältesten brachten ihn von der Schreibstube mit, in die sie Krämer hatte rufen lassen. »Wir müssen uns für morgen fertig machen, Kameraden … 10 000 Mann! Das bedeutet die Räumung ganzer Blocks!«
Immer fester wurde der Griff, immer starrer und unausweichbarer die letzte Strecke des Weges.
Schnell verwandelte sich die Lähmung, die der Befehl hervorgerufen hatte, in wilde und verwirrende Erregung. »Wir gehen nicht! Wenn wir schon sterben sollen, dann sterben wir hier im Lager!« Mancher Blockälteste hatte Worte zu sprechen, die in ihrer Bitterkeit das Herz zum Schrumpfen brachten. »Überlegt es euch, Kameraden. Wenn die SS in die Blocks kommt, dann wird sie nicht zu euch sprechen wie ich. Ich kann euch nicht zum Bleiben auffordern, denn ich will nicht schuld an eurem Tode sein.«
Allerorts im Lager gab es unterdessen heimliche Unterredungen. Die Verbindungsleute des Apparates brachten Instruktionen zu den Vormännern der Widerstandsgruppen. »Von jeder Gruppe geht ein Teil der Genossen mit demTransport: Freiwillige! Sprecht mit euren Leuten. Sie nehmen Waffen mit, Stichwaffen. Sie müssen versuchen, unterwegs die Bewachung zu erledigen und den Transport zu befreien.« {Ob es gelingen würde? Es gab nur Achselzucken.}
Bochow und Bogorski hatten die Anweisung herausgegeben, es war nicht Zeit gewesen, das ILK zusammenzurufen. Die Vormänner holten sich die Mitglieder ihrer Gruppen einzeln heraus, zu einem kurzen Gang zwischen den Blocks oder in einer Ecke des Schlafsaals. »Willst du mitgehen?« Ein Schweigen, ein Zusammenpressen der Lippen, ein schattenhaftes Gleiten der Gedanken in eine Ferne hinein, wo es eine Frau gab, Kinder oder eine Mutter oder ein Mädchen … ein Nicken schließlich oder ein Schütteln des Kopfes. Manche gaben eine schnell entschlossene Antwort, weil es keine Ferne gab, die von den huschenden Gedanken vor der Entscheidung erst abgetastet werden musste: »Selbstverständlich gehe ich mit.« Die Freiwilligen nahmen den Tod auf sich. –
Als sie sich nach ihrer kurzen Besprechung trennen wollten, hatte Bochow den Freund festgehalten. »Sag mir die Wahrheit, Leonid, hast du das Kind fortgeschafft? Sag die Wahrheit.«
»Warum fragst du? Ich habe dir die
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