Nackt unter Wölfen
zu Zeit nur sortierte einer der Pfleger die Schaukelbank aus.
»Na, Kumpel, bist du wieder beisammen? Geh nach Hause, komm, mach Platz.«
In innerer Abwehr sah Krämer zu. Willig und ergeben legten sich die Kranken auf den Tisch. Süchtig saugten sie sich in die Betäubung hinein. Es kam darauf an, wer schneller war, der Schlaf oder das Messer … neunzehn … zwanzig … einundzwan… manche stöhnten auf, das Messer war schneller gewesen.
Köhn hatte Krämer bei dessen Eintreten nur kurz zugenickt und sich nicht weiter um ihn gekümmert, obwohl er wusste, dass der Lagerälteste mit ihm sprechen wollte. Nach weiteren drei Operationen hatte es Köhn für diesmal geschafft. Er ging mit Krämer in den Aufenthaltsraum der Pfleger hinüber und wusch sich die Hände. Krämer, noch beeindruckt, meinte:
»Wie du das machst …«
Die Hände abtrocknend, setzte sich Köhn auf die Bank neben Krämer und lächelte wissend:
»Tja, wie macht man das …« Als Magenkranker vor Jahren ins Revier eingeliefert, war er von den Pflegern wieder hochgepäppelt worden und – geblieben. Er hatte sich in der Folgezeit zum halben Mediziner entwickelt und sich allmählich auch, von der Notwendigkeit dazu gezwungen, die Praxis des Operierens angeeignet. Jetzt schnitt er wie ein Arzt. »Tja, wie macht man das …« Es lag ein wenig Eitelkeit darin, wie er es sagte.
So wortkarg und konzentriert er im Operationsraum war, so gelöst und unbeschwert konnte er sein, wenn {er die anspruchsvolle Arbeit hinter sich gebracht hatte}. Der hagere Vierziger hatte seinen Freunden vom Revier manche gute Stunde aus dem unversiegbaren Quell seiner Theatererinnerungen geschenkt und im Krankensaal, aus der Fröhlichkeit seines starken Herzens heraus, manchen verglimmenden Funken Lebenskraft wieder angeblasen.
»Na, Junge, will’s wieder werden?«, munterte er den Kranken auf, wenn er ans Bett trat. »Siehst du, ich habe dir immer gesagt, alles ist halb so schlimm wie noch mal so schlimm.«
{Erich Köhn konnte zaubern, und er machte von dieser Begabung reichen Gebrauch.} Jetzt aber saß er ernst und nachdenklich neben Krämer.
»Jaja«, nickte er vor sich hin, nachdem ihm Krämer den Grund seines Besuches erklärt hatte, »mit dem Blitzkrieg fängt so was an, und mit einem Häftlingssanitätstrupp hört es auf. Erst Siegesfanfaren, dann Luftschutzsirenen …«
Er stand auf und hängte das Handtuch an den Nagel.
»Deutsches Volk, was für ein Rindvieh bist du, im Ganzen gesehen! Erst verdunkelst du dir das Gehirn und dann die Fenster …«
Er lachte bitter auf. Plötzlich fuhr er zu Krämer herum, der Blick seiner grauen Augen wurde scharf.
»Ohne Bewachung über die Postenkette? – Mensch, das ist doch …«
»Deshalb will ich mit dir reden«, entgegnete Krämer.
Köhn setzte sich interessiert zu ihm, und sie sprachen lange miteinander, bis Krämer das Revier verlassen musste, um zur Nacht abzupfeifen. Die sechzehn Pfleger für den Trupp hatten sie sich ausgewählt.
»Sag noch nichts darüber«, riet Krämer, »ich spreche selbst mit ihnen.«
Am anderen Vormittag brachte Pippig die Transportliste von der Schreibstube. Mit besorgtem Gesicht übergab er sie an Höfel. Der nahm sie schweigend entgegen. Seit sie das Kind aufgenommen hatten, war etwas Fremdes zwischen ihnen. Das bisherige Verhältnis war gestört.
Höfel, sonst gleichbleibend freundlich, war wortkarg geworden, besonders, wenn es um das Kind ging. Gegen jeden Überredungsversuch Pippigs, das kleine Wesen hierzubehalten, blieb er unzugänglich. Es war zwischen ihnen nicht üblich, nach Gründen zu forschen, wenn sie nicht einer Meinung waren. Einer beugte sich der besseren Einsicht des anderen. Des Kindes wegen konnte Pippig den Freund nicht verstehen, er sah hier alles recht unkompliziert.
Die Fronten rückten immer näher ans Lager heran. Lange konnte es ohnehin nicht mehr dauern. Entweder waren sie alle bald frei oder – tot. Zwischen den beiden Möglichkeiten lag keine dritte.
Was war einfacher, als das Kind bis zu diesem Zeitpunkt, wo die Zunge der Waage nach der einen oder der anderen Seite ausschlug, hierzubehalten? Es konnte mit ihnen gemeinsam in die Freiheit gehen oder mit ihnen zusammen sterben.
Aus diesem einfachen Schluss heraus wollte es Pippig nicht verstehen, warum Höfel so fest entschlossen war, das Kind wegzugeben. Hatte er Angst?
Höfel warf die Liste auf die lange Tafel.
»Mach die Effekten fertig. Wenn wir sie am Mittag ausgeben, dann holst du den
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