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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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wieder in einer richtigen Stadt gewesen, und im Laufe des Tages hatte ich mehrmals aufgeblickt und beim Anblick einer fremden Rucksackträgerin gedacht, ich kenne sie. Es war ein berauschendes, frohes Gefühl gewesen: «Da, das ist doch Veronica; das ist doch Gretchen.»
    Es war unlogisch, aber das hielt mich nicht davon ab, tief einzuatmen und von meinem Klappstuhl aufzuspringen. Die unweigerlich folgende Enttäuschung war niederschmetternd und diente nur dazu, mich daran zu erinnern, wie sehr ich die Menschen vermisste, die ich zurückgelassen hatte. Ich sah, wie Leute Weihnachtsgeschenke kauften, und malte mir aus, wie ich das Fest allein in meinem Anhänger verbrachte und darauf wartete, dass mir all die wohlmeinenden Christen einen Schinken oder Schmortopf an die Schwelle lieferten. Und diese Menschen waren gut. Sie waren freundlich und aufmerksam, aber ihre Gnadenakte waren an mich verschwendet, denn ich würde sie – egal, wie es gerade um mich stand – nie wirklich akzeptieren können. Vielleicht war ihnen das nicht wichtig, aber mir bedeutete es etwas. Ein Hühnchen, eine Pappschachtel, eine Jade-Uhr: diese Dinge waren viel versöhnlicher, als ich je zu sein hoffen konnte. Ich war ein Klugscheißer; als Klugscheißer geboren und als Klugscheißer aufgezogen worden. Das war mein Fluch gewesen und das würde weiterhin mein Fluch sein. Mich im Glauben zu unterweisen, war, als gäbe man einer Ziege Kochunterricht …; es brachte einfach nichts. Ich war zu gierig und unaufmerksam, und der süße Lohn, der am Ende winkte, war mir wurscht. Ich wollte meinen Job nicht hinschmeißen. Hinschmeißen erforderte ein gewisses Maß an Verantwortung und die wollte ich nicht übernehmen. Ich hoffte vielmehr, Jon würde mich dieser Last entbinden und mich sobald wie möglich rausschmeißen. Ich hatte für ihn Verachtung empfunden, sogar gelegentlich Hass, und nun bekämpfte ich den Drang, Mitleid mit ihm zu haben. Er muss es gewusst haben, denn er räusperte sich und machte sich daran, mich mitten im Gedankengang zu unterbrechen.
    «Ich will dir mal ganz kurz was sagen», sagte er schließlich. «Ich hab’s nicht gern, wenn man mich ausnutzt. Ich spreche nicht von dem vielen Gratis-Kaffee und auch nicht davon, dass ich dich ständig umsonst überall hinfahre. Ich meine: hierdrin ausnutzt.» Er wollte auf sein Herz zeigen, musste aber gleichzeitig überholen und zeigte schließlich auf seinen Schoß. «Du bist ein Benutzer, Kleiner. Du hast meine Werkzeuge und meine Geduld benutzt, und jetzt willst du, dass ich dir den Kopf tätschele und dir sage, was für ein guter kleiner Junge du bist. Aber weißt du was? Du bist kein guter Junge. Du bist nicht mal ein gutes Mädchen.»
    Mehr, dachte ich. Mehr, mehr.
    «Du kommst in die Stadt gerauscht und erwartest, dass jetzt alle strammstehen und dir den roten Teppich ausrollen, und, ja, bei manchen hat das ja auch geklappt. Du hast ihre Truthahnfüllung gegessen und noch mal Nachschlag verlangt, aber das war es dann auch, Ferkel, der Schrank ist leer. Ich habe dir eine handwerkliche Fähigkeit beigebracht und jetzt kannst du zur Abwechslung mal selber zahlen. Völlig richtig, drehen wir mal den Spieß um. Warum nicht? Ist doch nur fair! Für den Anfang schuldest du mir hundert Dollar für die Standmiete. Du hast ja auch die Früchte geerntet, ich nicht. Ich habe mich lediglich krummgelegt und dir was beigebracht und dir beim Flennen zugehört, wenn du dir wieder mal die zarten kleinen Knöchelchen verletzt hattest. Du quatschst mich mit deinen Schluchzgeschichten voll, und dann erwartest du, dass ich dich abputze und dir sage, Daddy macht das schon. Aber weißt du was, Kleiner? Ich bin nicht dein Daddy, und ich habe es satt, wie einer benutzt zu werden.»
    Er fuhr rechts ran und hielt. «Ich bin weder dein Daddy, noch dein Chauffeur, noch dein gottverdammter Weihnachtsmann.»
    Ich überreichte ihm das Geld, das ich verdient hatte, und stieg aus dem Kombi.
    «Für die Sache mit Gott berechne ich dir nichts», rief er. «Ihn kannst du gratis haben.»
    Ich sah zu, wie er wieder auf die Straße fuhr, und, nachdem ich einen Stein in der richtigen Größe ausgewählt hatte, segnete ich das Heck seines Wagens. Es war nicht mehr übermäßig weit bis nach Odell, nicht mehr als zehn Meilen. Ich ging ein Stück zu Fuß und hielt dann den Daumen in die Luft, hatte es eilig, zurück zum Anhänger zu kommen. Wenn alles klappte, konnte ich noch aufräumen, meinen Kram packen und den Morgenbus

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