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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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Eintragungen verlangten nach jemandem, der großflächige Wandmalereien anbringen oder die Landkarte der Normandie in Email auf ein Medaillon von der Größe eines Vierteldollars malen konnte. Nichts verband mich mit diesen Jobs, nicht einmal der Besuch des Art Institute, denn das ist ja das Schöne an einer Kunsthochschule: Solange man die Gebühren zahlt, werden sie nie, nicht einmal ganz sanft, vorbringen, man hätte kein Talent. Ich war bereit loszuschlagen, als ich die Telefonnummer einer Frau entdeckte, die ihre Wohnung gestrichen haben wollte. Bingo. Darin hatte ich jede Menge Erfahrung. Wenn überhaupt was, dann galt ich beim Anstreichen als zu pingelig. Wenn sie die Leiter stellte und ich die Farbe im Bus transportieren konnte, war die Sache geritzt.
    Die Frau hob an, indem sie mir sagte, sie hätte die Wohnung immer selbst gestrichen. «Aber jetzt bin ich alt. Mir tun die Hände weh, wenn ich meinem Mann die Füße massiere, geschweige denn einen schweren Pinsel heben muss, bis über den Kopf jawohl, ich bin alt. Verwelkt und schwächlich wie ein Kätzchen. Ich bin eine alte, alte Frau.» Sie sprach, als wäre das ohne Vorwarnung über sie gekommen: «Plötzlich versagt mein Rücken, ich bin kurzatmig, und an manchen Tagen sehe ich keine zwei Fußbreit weit.»
    Es klang immer besser. Ich hatte gelernt, mich vor Menschen in acht zu nehmen, die gezwungen waren, andere für etwas zu bezahlen, was sie früher selbst gemacht hatten. Man konnte davon ausgehen, dass sie hyperkritisch waren, aber bei ihr rechnete ich nicht mit Problemen. Es hörte sich an, als könne sie nichts gut genug sehen, um sich darüber zu beschweren. Es genügte wahrscheinlich, wenn ich die Farbdosen öffnete, sodass man die Dämpfe roch, und es dabei bewenden ließ. Wir verabredeten, dass ich am nächsten Morgen ihre Wohnung begutachten sollte, und ich legte frohlockend den Hörer auf.
    Die Wohnung war in einem Hochhaus am Lake Shore Drive. Ich klopfte, und die Tür wurde von einer adretten, energisch aussehenden Frau geöffnet, die einen Tennisschläger hielt. Ihr Haar war weiß, aber, von ein paar spinnwebdünnen Linien unter den Augen abgesehen, war ihr Gesicht glatt und ohne Runzeln. Ich sagte, ich würde gern mal mit ihrer Mutter sprechen, sie lachte in sich hinein und piekte mir mit dem Griff ihres Schlägers in die Rippen. «Ich bin ja so froh, endlich einen jungen Menschen zu sehen.» Sie griff nach meiner Hand. «Sieh mal, was wir hier haben, Abe: einen jungen Burschen. Praktisch noch im Krabbelalter!»
    Ihr Gatte hüpfte herbei. Muskulös und sonnengebräunt, trug er einen Trainingsanzug aus Nylon, komplett mit Stirnband und gleitenden Turnschuhen. «Aah, ein Kindlein!»
    «Er hat einen College-Abschluss», sagte die Frau und ging in die Hocke, um eine Kniebeuge vorzufahren. «Ein Kind, das glaubt, es sei imstande, unseren Sarkophag anzustreichen. Er sieht uns an und denkt, er hat ein Fossilienpaar entdeckt, das er vielleicht ans Museum verkaufen kann. Stimmt ja auch, wir sind ja alt. Verzehren unser Gnadenbrot. Sozusagen nicht mehr die Jüngsten.»
    «Hab noch die Pyramiden eigenhändig gebaut», fügte der Gatte hinzu. «Hab regen Gedankenaustausch mit Plato gepflegt und bin im Streitwagen über römisches Kopfsteinpflaster geschuckelt.»
    «Machen wir uns nichts vor, Baby», sagte seine Gattin. «Wir sind antik. Ein Paar Ehemalige.»
    «Aber nein», sagte ich. «Sie sind doch nicht alt. Sie sehen beide nicht einen Tag älter aus als fünfzig. Sehen Sie sich an; so adrett und fit, sind Sie doch besser in Schuss als ich. Ich bin sicher, Sie haben noch ganz viel Zeit übrig.»
    «Genau.» Die Frau hüpfte auf ein Trimm-dich-Fahrrad. «Zeit, unsere eigenen Namen zu vergessen, Zeit, die Kontrolle über den Schließmuskel zu verlieren, Zeit, einen krummen Rücken zu kriegen und zu lamentieren und in unser Lätzchen zu sabbern. Wir haben alle Zeit der Welt. Einst warf ich mir einen Rucksack über, und los ging es auf eine zwei-, dreiwöchige Wanderung, aber jetzt kann man das vergessen. Ich bin zu alt für so was.» «Sie ist älter als die Berge, auf die sie früher zu klettern pflegte», sagte ihr Gatte.
    «Hört euch das an! Opa riskiert auf seine alten Tage schnell noch mal eine Lippe.»
    «Ich steh zu meinem Zauseltum», sagte der Mann. «Trotzdem kriege ich immer noch ein Bein an die Erde.»
    «Stimmt», gackste sie. «Und bald unter die Erde.»
    Da verstand ich, dass dies ihre Nummer war: Die zänkischen Alten, seit

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