Nächsten Sommer
der Stirn. Leere Bierdosen und Zigarettenschachteln gibt es immer noch, aber keine Kondome und keine Lateinarbeiten.
Die Luft ist klar, man blickt wie durch ein Vergrößerungsglas. Selbst der Traktor in der Ferne scheint zum Greifen nah. Außerdem ist es windstill. Das Land atmet schwer und Marc mit ihm. Wir sitzen auf demselben Vorsprung wie damals. Der Ausblick ist erhebend, sogar Bernhard ist für einige Sekunden ganz in Anspruch genommen, bevor er sich wieder auf sein Leid besinnt: »Nachher hab ich garantiert einen Sonnenbrand.«
Wir fahren nach Frankreich, denke ich. Wir tun es tatsächlich. In das Haus von Onkel Hugo. In mein Haus. Das ich nie gesehen habe. Man fand ihn auf seinem Segelboot, das draußen auf dem Meer trieb. Der Notar sagte, es deute alles auf eine gezielte Selbsttötung hin. Offenbar hatte Onkel Hugo Knochenmarkkrebs und wollte sich ihm nicht ausliefern. Er war Internist, er wusste, was zu tun war.
»Hab was für dich.«
Marc zieht ein gefaltetes Blatt aus der Tasche und reicht es mir. 120 Gramm holzfrei, schätze ich, genau die richtige Stärke. Ich habe es ihn nicht einstecken sehen. Wahrscheinlich hatte er es bereits heute Morgen in der Tasche.
Ich beginne, den Flieger zu falten, und prüfe den Schwerpunkt. Heute könnte es gehen – bei so wenig Wind.
»Marc?«, sage ich.
»Hm?«
|34| »Hab ich wieder einen Wunsch frei?«
»Vergiss es, Mann.«
Ich überlege, aus welcher Richtung der Wind kommt, aber da gibt es nichts zu überlegen. Kein Wind. Also lasse ich das Flugzeug nach Südwesten fliegen, nach Frankreich, ans Meer. Wir sehen ihm nach, Bernhard, Marc und ich, wie es in einer geraden Linie davonsegelt, ohne auch nur mit den Tragflächen zu zittern.
»Danke.« Jetzt habe ich es also doch gesagt.
»Weiß nicht, wovon du redest«, antwortet Marc.
Nach einigen Metern verlässt der Flieger den Windschatten des Berges und wird von einem Luftzug erfasst, der ihn in einem sanften Bogen nach rechts abtreibt, Richtung Parkplatz.
»Doch«, sage ich, »weißt du.«
»Halt einfach die Klappe.«
Der Flieger gerät in einen Luftwirbel, der ihn beinahe gegen den Felsen drückt, aber bevor es so weit kommt, zieht ihn eine plötzliche Strömung hinaus auf das offene Feld und um den Berg herum, bis er sich unseren Blicken entzieht. Unten krabbelt ein schwarzer Sportwagen wie ein Insekt auf den Rastplatz und parkt, von den Bäumen verdeckt, in der Haltebucht. Könnte der Maserati sein, der uns vorhin geschnitten hat, um die Tankstelle anzufahren.
»Prostata«, vermutet Marc. »Muss alle zehn Minuten raus. Was für ein Glück, dass es schnelle Autos gibt.«
»Können wir?«, fragt Bernhard.
Als wir den Abstieg hinter uns haben und uns durch die Brennnesseln in das Wäldchen vorarbeiten, wo es schattig wird, fragt Marc: »Und, Bernhard – wie war’s?«
Bernhard ist mit Brennnesseltreten beschäftigt: »Eine Antwort hab ich da oben jedenfalls nicht gesehen.«
»Die müsste dir ja auch in den Hintern beißen, damit du sie bemerkst.«
Wir kommen gerade rechtzeitig aus dem Wäldchen und hoppeln die Böschung zum Parkplatz hinunter, um mitzuerleben, wie sich die Beifahrertür des Maserati öffnet, das heißt: Sie öffnet sich nicht, sondern wird aufgetreten. Eine Umhängetasche fliegt auf den Parkplatz, dann springt eine Frau aus dem Wagen – sie »springt« tatsächlich – und bleibt in der Tür stehen, die sie mit |35| ihrem Hintern aufhält, während eine Hand aus dem Wagen sie zuzuziehen versucht.
»Gib mir meinen Rucksack, Arschloch!«, schreit die Frau, und wir drei bleiben stehen, mitten auf der Wiese, neben dem einbetonierten Mülleimer.
Einen Moment ist es wie Armdrücken, er versucht, die Tür zuzuziehen, sie stemmt sich dagegen. Der Maserati ist nagelneu, nicht mal ein Fliegenschiss auf der Scheibe.
»Meinen Rucksack, hab ich gesagt!«
Die Hand wird zurückgezogen, kurz darauf stolpert ein Backpacker-Rucksack wie ein Lemming aus dem Wagen und landet mit dem Gesicht voran auf dem Asphalt. Die Frau tritt von der Tür zurück, die Hand zieht sie zu. Einen Augenblick später fährt ihr der Maserati um ein Haar über die Füße.
»Amore am Arsch, du Wichser!«, brüllt sie ihm hinterher.
Dann ist er weg.
Die Frau richtet sich auf, rückt ihren Rock zurecht, der irgendwie nicht da ist, wo er hingehört, und ordnet die Träger ihres … Was-auch-immer.
»Tank-Top«, sagt Marc von der Seite.
Alles an ihr ist unter Hochspannung, einschließlich ihres weißen Tank-Tops. Jeden
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