Nächsten Sommer
gebührendem Abstand. Bernhard sucht sich einen Rasenflecken und macht Liegestütze, bei 32 Grad und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Ich steige inzwischen auf das Busdach. Das ist übrigens
mein
Tick: Ich betrachte die Dinge gerne von oben. Marc meint, das kommt, weil ich als Kind zu viel Zeit im Heizungskeller verbracht habe. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber letztlich spielt es auch keine Rolle.
Oft genügten Vater Kleinigkeiten, um mich in den Keller zu sperren. Wer einen Grund finden will, muss nicht lange suchen. Wenn er unter Druck stand, reichte es schon, wenn ich meine Schuhe seiner Meinung nach nicht richtig hingestellt hatte. Der Raum für den Öltank hatte keine Tür, sondern eine Luke. Bis auf Augenhöhe war alles zugemauert – damit das Öl nicht in den Keller lief, falls der Tank irgendwann ein Leck hätte. Er war sehr groß, 7000 Liter Fassungsvermögen. »Sicherheit«, erklärte Vater, »es gibt nichts Wichtigeres im Leben.«
Nachdem man das Fundament für das Haus gegossen hatte, war ein Schwerlastkran gekommen, hatte den Tank in die Baugrube hinabschweben lassen und ihn auf einem zuvor markierten Rechteck abgesetzt. Das Haus wurde anschließend um ihn herum gebaut. Außer der Luke gab es nur ein kleines, vergittertes Kippfenster, hoch oben in der Wand, durch das der Schlauch gesteckt wurde, wenn der Tanklaster kam. Zwischen dem Tank und der Wand war so wenig Platz, dass ich nur seitwärts daran entlanggehen konnte. Es roch immer wie an der Tankstelle, und im Winter gluckerte und rülpste es im Tank.
Viele Ängste waren mit mir zusammen in diesem Raum eingesperrt. Mit manchen schloss ich nach und nach Freundschaft, oder zumindest Frieden. Die größte war, dass der Tank ein Loch |77| hätte, das Öl auslaufen und ich darin ertrinken würde. Ständig kroch ich auf dem Boden herum und suchte nach feuchten Stellen. Die Wände waren mit Ölfarbe gestrichen, es gab nichts, woran ich mich hätte festhalten können. Wenn die Angst so schlimm wurde, dass ich glaubte, ersticken zu müssen, fing ich an zu zählen, zuerst gerade und ungerade Zahlen, später Quadrat- und vor allem Primzahlen.
Als ich stark genug war, um mich mit den Füßen an der Wand abzustützen und mich den Tank hochzuschieben, kletterte ich nach oben. Auch zwischen Tank und Decke war nicht viel Platz, aber genug, um mich hinzulegen und aus dem vergitterten Fenster zu blicken. Meist lag ich allerdings auf dem Rücken, die Decke vor der Nase, die Handflächen auf dem Tank. Wenn er gluckerte, spürte ich die Vibration in den Fingern.
Mutter sagte nichts, aber wenn mich Vater wieder herausholte, wärmte sie mir das Essen auf, und ich durfte alleine bei ihr in der Küche essen. Manchmal war das das Schlimmste: Zu wissen, dass ich ohne seine Hilfe nicht wieder durch die Luke kommen würde. Ein einziges Mal habe ich sie gefragt: »Warum tust du nichts?« »Er ist dein Vater«, gab sie zur Antwort.
Während meine Hose langsam mit dem Dach verklebt, wird die benachbarte Parklücke frei, und ein schwarzer Mini schießt hinein wie ein zorniges Insekt. Zwei Frauen und ein Mann steigen aus, ungefähr mein Alter, hip, dynamisch, zielorientiert. Sie tragen Sneaker mit originellen Namen und Sonnenbrillen, die gerade groß genug sind, um sicher zu landen, falls sie aus einem Flugzeug springen müssen.
»Ich geh mal drei Latte und ein paar Crösies schießen«, sagt die eine, klappt ihre Sonnenbrille wie ein Visier herunter und geht auf einem unsichtbaren Strich Richtung Raststätte. Der Mann breitet eine alubeschichtete Picknickdecke auf dem Rasen aus. Fünf Meter weiter stemmt Bernhard mit seinen Händen Löcher in den Boden: ein-und-vier-zig, zwei-und-vier-zig …
Später wabern Satzfetzen herüber. Offenbar arbeiten die drei bei einer Werbeagentur und sind auf der Suche nach dem geeigneten Slogan für die Markteinführung eines neuen Autos. Ausdrücke |78| wie »interior images« und »down to earth feeling« kommen vorbei.
Die Frau, die »Crösies schießen« war, kommt mit einem Gesteck von Einwegbechern zurück und schwenkt eine Brötchentüte.
»Endlich mal ein paar Tage relaxen!«, verkündet sie und lässt sich mit ausgebreiteten Armen auf der Decke nieder.
Der Mann, der mit dem Rücken zu mir sitzt, ruft: »Das ist es!« und präsentiert mit einer schwungvollen Geste einen imaginären Schriftzug: »Relax!«
Die beiden Frauen sehen ihn an, als habe er gerade Wasser in Wein verwandelt.
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Hinter Grenoble holt uns der Stau
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