Nächsten Sommer
Ludger, das ist wie eine Zecke, die sich irgendwo festgebissen hat. »Und wann, glaubst du, wird der geeignete Zeitpunkt gekommen sein?«, fragt er.
Zoe lehnt sich zurück und blickt aus dem Fenster. Dann macht sie ihre Kapitulation perfekt: »Nächsten Sommer.«
Alle außer Lilith fangen an zu schmunzeln, sogar Zoe selbst. »Nächsten Sommer« war zwei Jahre lang ein Running-Gag zwischen uns, damals, als wir uns nach der Schule regelmäßig auf der kleinen Wiese im Mauerpark getroffen haben. Marc hatte immer seine Gitarre dabei, Bernhard sein aufblasbares Sitzkissen, Zoe ihre D&G-Handtasche. Natürlich gab es noch andere, die hin und wieder auftauchten und nach einer gewissen Zeit wieder verschwanden. Meist waren es Verehrer von Zoe oder Verehrerinnen von Marc oder aber Leute, mit denen er zusammen Musik machte.
Irgendwann kam dann die Sache mit »Nächsten Sommer« auf. Ich glaube, es war Bernhard, der uns von seinem Vorhaben erzählte, den Marathon mitzulaufen, und zwar in unter drei Stunden dreißig.
»Wann soll’n das passieren«, fragte Marc, »in deinem nächsten Leben?«
»Nein«, antwortete Bernhard entschieden, »nächsten Sommer.«
Seit diesem Tag war »Nächsten Sommer« das Synonym für »passiert sowieso nie«. Wenn Bernhard Marc provozieren wollte, indem er sagte: »Hey, Marc, hab gehört, du hast vierzehn Punkte in der Lateinklausur«, antwortete Marc: »Nächsten Sommer.« Und wenn Marc Bernhard provozieren wollte und sagte: »Stimmt das, Bernhard – du hast mit Zoe geschlafen?«, war die Antwort: »Nächsten Sommer.«
Wir haben Genf den Rücken gekehrt und tauchen in den ersten von zahlreichen Tunneln ein. Bernhard hat den Verbandskasten nicht gefunden und blutet gerade das dritte Taschentuch voll. Im Rückspiegel betrachte ich die vorbeijagenden Lichter, die als Randmarkierung dienen und uns wie in einem schlechten Sience-Fiction in eine andere Dimension zu schleusen scheinen.
»Wollte meine Schwester auch« – Lilith sieht sich ein letztes |70| Mal nach der Stadt um, die gerade hinter der Tunnelbiegung verschwindet –, »den dicksten Fisch im Teich.« Da niemand antwortet, fährt sie von alleine fort: »Hat ihn auch bekommen … einen richtigen kleinen Einstein.« Im Rückspiegel sieht es für einen Moment so aus, als würden die Lichter eins nach dem anderen in Liliths Ohren verschwinden. »Wie auch immer …«, schließt sie.
Kurz darauf passieren wir die Grenze. Frankreich. Die neue Dimension. Zwischen uns und dem Meer liegen ungefähr 700 Kilometer. Vorgestern saß ich um diese Zeit in meinem Bauwagen, wartete auf den Abend und darauf, dass Hit and Run käme und sich sein Fressen holte. Merkwürdig, denke ich, immer wartet man auf etwas. Wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht, können wir bis Mitternacht da sein, am Meer, in Hugos Haus, dessen Schlüssel ich seit zwei Tagen in der Hosentasche herumtrage. Vielleicht, denke ich weiter, hätte ich lieber in Berlin bleiben sollen, in meiner Tonne, hätte aufhören sollen zu warten.
Feels so good to be free …
From time to time …
Marc hat die Jack-Johnson-CD gegen eine von Donavon Frankenreiter ausgetauscht. Der besingt die Freiheit, die kleinen Wunder –
Free-eeeeeee
–, und außerdem verhöhnt er Bernhard, der immerzu gefangen ist in seinem Alltag und seinen selbsterfundenen Zwängen. Rechte Winkel, wo man hinsieht. Freiheit – pfff … Marc hat mir auf You Tube mal das Video zu dem Song gezeigt, da ist Donavon Frankenreiter beim Surfen zu sehen, in der Abendsonne, und eine Delphinfamilie springt über die Wellen, einfach so, weil es Spaß macht. Bernhard würde Frankenreiter am liebsten den Hals umdrehen.
Wir befinden uns zwischen Chambéry und Grenoble. Zum ersten Mal nach Genf rücken richtige Berge heran. Auch die Wolken machen Ernst. Vorhin betupften sie noch arglos den Horizont, dann spannten sie sich wie eine anrückende Armada über den Himmel, inzwischen stecken die Berge bis zur Baumgrenze in einer geschlossenen Decke. Nur noch selten reißt ein Gipfel ein Loch hinein, dann ziehen im Zeitraffer Lichtflecken über die Berghänge. Ein kleiner Bach windet sich, wie ein Tränenrinnsal |71| aus den Wolken kommend, durch einen Tannenwald, um sich von einem Felsvorsprung in die Tiefe zu stürzen.
Bei dem Gedanken an Onkel Hugo und sein Haus stellt sich ein Gefühl ein, als lebe er noch und erwarte uns dort. Einmal, an meinem fünften Geburtstag, habe ich mir vor Freude über seinen Besuch in die Hose gepinkelt.
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