Nächsten Sommer
eines Blitzes leuchtet die Kirchturmglocke auf.
|142| »Ich wollte dir was sagen«, fährt Zoe fort.
Ich warte.
»Es tut mir leid, wegen vorhin – als ich gesagt habe, du könntest es kaum erwarten.« Sie stupst Bernhard an, der kurz mit dem Schnarchen aussetzt. »Es war, weil ich sauer war«, fährt sie fort. »Ich hab mich geschämt. Weil ich da unten in dieser Schlucht total ausgefreakt bin, während du völlig cool geblieben bist.«
Ich möchte ihr sagen, dass sie keinen Grund hat, sich zu schämen. Schließlich waren es ihre Schreie, die uns gerettet haben. Ohne sie wären wir jetzt noch immer in der Schlucht. Zusammen mit dem Wildschwein. Zoe hasst es, sich selbst oder anderen eine Schwäche einzugestehen. Wenn sie sich bei mir entschuldigt, muss sie das große Überwindung kosten. Auch das könnte ich ihr sagen – dass ich weiß, wie viel diese Geste ihr abverlangt.
Am Ende sage ich: »Okay.«
Bernhards Schnarchen hat wieder eingesetzt.
»Ach, und Felix?«
»Ja.«
»Ich glaube, um Lilith musst du dir keine Sorgen machen. Die kommt schon zurecht.«
»Ja«, sage ich.
Wahrscheinlich stimmt es. Lilith ist so jemand. Die kommt zurecht. Doch ihr Rucksack liegt noch im Kofferraum, und wie weit kommt sie ohne den?
|143| 28
Lilith überlegt tatsächlich, ob sie nicht einfach auf dem Vordach liegen bleiben soll. Genug. Genug für heute, für eine Woche, wenn nicht für ein halbes Leben.
»Ich will nicht mehr«, sagt sie zu sich selbst. Es klingt, als bitte sie um Gnade.
Doch eine Indiana Jones lässt sich nicht so einfach vom Schicksal zur Strecke bringen, jedenfalls nicht auf einem Kinovordach. Indiana würde seine Peitsche zücken, sich in die Platane schwingen und von dort auf einen fahrenden LKW springen. Und wenn er seine Peitsche verlegt hätte, so wie Lilith jetzt, dann würde es eben ohne gehen müssen. Lilith steht auf, springt, greift sich das Ende eines Astes und schaukelt so lange daran hin und her, bis sie ihn mit den Füßen umfassen kann. Schweinebaumel hieß das früher. Immerhin.
Drei Minuten später hat sie den Stamm erreicht, sucht sich den niedrigsten Ast, hängt sich daran, schließt die Augen, tastet mit den Füßen nach dem Mülleimer, lässt los und klatscht neben der Bank auf das Steinpflaster.
»Aua«, sagt sie und reibt sich das Knie. »Gut gemacht, Indiana.«
Die Hände in den Taschen, trottet sie zum Dorfplatz zurück. Sie hat nicht einen Euro bei sich, die anderen sind weg, ihr Rucksack ebenfalls. Zeitgleich mit ihr trifft Jürgen ein, der gerade von seiner Havarie mit Jeanne kommt und nur einen Vorsatz hat, nämlich sich besinnungslos zu trinken. Vor dem
Louis
stoßen sie zusammen.
»Dich kenn ich doch«, sagt Jürgen.
»Selber«, antwortet Lilith.
Louis ist damit beschäftigt, die Stühle übereinanderzustapeln und die Tische in den Schuppen zu räumen. Könnte stürmisch werden heute Nacht. Die Fensterläden der alten Schule fangen bereits an zu klappern. Ein sicheres Zeichen, dass etwas im Anmarsch ist. Die letzten verbliebenen Gäste ziehen sich in die Bar zurück.
|144| Unter Liliths Jeansjacke leuchtet ihr T-Shirt hervor – das mit den Ländern und Titten.
Jürgen zeigt mit dem Finger auf ihre Brüste. »Interessantes T-Shirt.«
»Gibst du mir einen aus?«, fragt Lilith.
Sie setzen sich an die Bar.
»Was willst du trinken?«, fragt Jürgen.
»Was trinkst du?«
»Whiskey.«
Lilith zuckt mit den Schultern. »Schätze, es gibt für alles ein erstes Mal.«
Drei Whiskeys später fragt Jürgen: »Wo hast’n die anderen gelassen?«
Lilith erzählt, was passiert ist: Wie sie auf das Vordach geklettert sind und die Buchstaben umgesteckt haben, wie die Polizei kam und die anderen ohne sie abhauen mussten. Mit all ihren Sachen.
»Maurice«, murmelt Jürgen. »Dämlicher Froschfresser.«
In Jürgen haben doppelt so viele Whiskeys Platz wie in Lilith. Zum Schluss hat sie sieben getrunken, er vierzehn. Lilith ist schlecht, Jürgen nicht. Betrunken sind beide.
Jürgen hat eine Superidee: »Hör ma«, sagt er und muss all seine Konzentration aufbieten, um nicht von seiner Argumentationslinie abzuweichen. Die ist nämlich geradezu bestechend in ihrer Stringenz. »Ihr habt mir doch vorhin meinen Fick versaut«, beginnt er. »Und dann hat Jeanne – ist meine Freundin – mir noch mal meinen Fick versaut. Und außerdem …« Er denkt ganz scharf nach. »Außerdem hab ich euch aus dem Gorges gerettet, und du hast zwei echt … sehr … bemerkenswerte Möpse da
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