Nächsten Sommer
Schultern herab. Es ist unklar, ob er Liliths Frage gehört hat. Vielleicht denkt er auch nach.
»Hier ist gut«, sagt er schließlich.
Louis kommt aus der Bar, schließt ab, zieht den Kopf ein und verschwindet eilig in einer Seitengasse.
»Nur noch wir zwei«, sagt Jürgen.
»Denk nicht mal dran«, antwortet Lilith.
Das Gewitter hat das Dorf erreicht. Donner rollt durch die Gassen und über den Platz. Der Regen wird so stark, dass auch die Nische keinen Schutz mehr bietet. Lilith steht auf. So gut es geht. Ihre Knie machen komische Bewegungen. Sie muss irgendwohin, wo es trocken ist. Wenn sie heute noch einmal durchfriert, helfen ihr morgen auch keine 24 Kilo Koffein mehr.
»Fick dich«, sagt sie zum Abschied.
»Hm.«
Lilith stapft über den Platz, kriecht unter der Plane des Zirkuszeltes durch, findet ein Sitzkissen, das sie sich unter den Kopf legen kann, und einen Vorhang, der eine brauchbare Decke abgibt. Sie sucht sich einen Platz in der Manege, in der außer ihr noch ein einsamer Esel steht, legt sich in den Sand und breitet die Decke über sich. Es riecht nach Stall. Um sie herum prasselt der Regen auf die Planen. Wenn jetzt Laura bei ihr wäre und sie in den Arm nähme, dann könnte dies der romantischste Ort der Welt sein. So aber ist es nur das, was es ist: feuchter Sand, Regen und ein einsamer Esel. Lilith zieht sich den roten Samtvorhang über das Gesicht. Eine einzelne Träne rinnt ihr aus dem Augenwinkel. Was für ein Scheiß.
Jürgen bleibt in der Nische sitzen. Wird er halt nass. Trocknet auch wieder. Als der Regen nachlässt, kommen die Fledermäuse. Die feuchte Luft ist für sie wie ein Insektenbuffet, all you can eat. Braucht kein Mensch, Fledermäuse. Genauso wenig wie Insekten. Über den schlammigen Bouleplatz hopsen Frösche. Braucht auch keiner.
»Weißt du was?«
Es ist Jürgens Stimme, die Lilith aus dem Schlaf reißt. Eingerollt in ihren Vorhang, liegt sie in einer Nische der Manege und rührt sich nicht.
|148| »Wahrscheinlich bin ich am Ende genauso dumm wie du«, fährt Jürgen fort. »Vielleicht sogar noch dümmer. Denn du bist trocken, und ich bin nass.«
Lilith will ihm gerade antworten, dass er sie verdammt noch mal endlich in Ruhe lassen soll, doch bevor sie das tut, öffnet sie vorsichtshalber ein Auge und schielt aus ihrem provisorischen Schlafsack heraus. Dabei stellt sie fest, dass Jürgen gar nicht mit ihr spricht, sondern mit dem Esel, der neben dem Eingang angebunden ist. Im ersten Grau des Tages, das durch die Zeltplanen sickert, sitzt er auf dem Rand der Manege, Auge in Auge mit seinem neuen Freund. Ein vertrauliches Gespräch unter seinesgleichen. Dass Lilith ihm zu Füßen in der Manege liegt, hat Jürgen gar nicht mitgeschnitten.
Der Esel ermuntert ihn fortzufahren, indem er mit dem linken Ohr wackelt.
»Du hast es gut«, meint Jürgen daraufhin.
Lilith schließt die Augen und zieht den Kopf ein.
»Du musst dir um nichts Gedanken machen. Hast ’ne schicke Wohnung, kriegst zu fressen, und jeden Abend kommen Leute und applaudieren dir. Ficken haste, nehme ich mal an, sowieso keinen Bock mehr drauf, und ansonsten ist nicht viel …« Jürgen streicht dem Esel über den Kopf, tief in Gedanken versunken, bis der ihn mit der Nase anstupst. »Sorry, Kumpel«, antwortet Jürgen, »hab nichts zu fressen für dich. Lass uns lieber mal gemeinsam über Moral nachdenken. Moral ist … komplex. So viel ist mal sicher. Kann ohne Ende nerven, aber so richtig von ihr los kommst du trotzdem nicht. Wie bei der Frau fürs Leben.« Es folgt eine Pause, in der Jürgen seine Gedanken zu bündeln versucht. Lilith fürchtet bereits, er könne im Sitzen eingenickt sein, Stirn an Stirn mit seinem Artgenossen, als Jürgen fortfährt: »Weißt du was, Kumpel? Ich sollte jetzt nach Hause gehen zu meiner Frau und mich entschuldigen. Ist schließlich die Frau des Lebens … für mich. Wär doch auf jeden Fall irgendwie moralisch, oder?« Der Esel wackelt mit dem Ohr. »Meine Rede, Kumpel.«
Mühsam erhebt sich Jürgen, findet sein Gleichgewicht, klopft dem Esel den Staub aus dem Rücken und stakst aus dem Zelt. Lilith dreht sich von rechts nach links und schläft wieder ein.
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Vater war Ski fahren gewesen. Über das Wochenende. Es war kurz vor Weihnachten. In Sankt Moritz lagen zweieinhalb Meter Neuschnee, die nur auf ihn warteten. Ein Flugzeug brachte ihn hin, ein Helikopter zurück. Unterschenkelfraktur. Inzwischen hatte er einen Chauffeur. Doch das Gehen konnte ihm
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