Nächsten Sommer
vor, Onkel Hugo an seinem Schreibtisch sitzen zu sehen. Doch er ist tatsächlich nicht da. Die Figuren stehen so, wie mein Vater sie zurückgelassen hat. Ich hätte ihn bereits zwei Züge vorher matt setzen können, stattdessen habe ich seinen König so in die Enge getrieben, dass er nur noch im Kreis herumlaufen konnte, wie in einem Verlies. Wie in einem Heizungskeller mit verschlossener Luke. Ich stelle die Figuren neu auf und gehe zum Schreibtisch hinüber.
Der hölzerne Drehstuhl gibt ein zaghaftes Knarzen von sich und sinkt unter meinem Gewicht einige Zentimeter ein. Onkel Hugos Schreibtisch stammt aus einer Zeit, als man Möbel noch fertigte, um sie von Generation zu Generation weiterzuvererben. Die Seitentüren sind massiv wie die eines Tresors, das Fach in der Mitte ist mit zwei schweren Messinggriffen versehen, ohne die man es nicht ausziehen kann. Die Schublade riecht nach Tabak und ist ein Sammelbecken schöner alter Dinge: Ein Schweizer Taschenmesser, ein Briefbeschwerer in Form eines Marmorquaders, eine Uhr mit abgetragenem Lederarmband, ein Tintenfass.
|200| Außerdem gibt es drei Schachteln unterschiedlicher Größe. Die erste enthält Fotos: Unterschiedliche Frauen vor unterschiedlichen Hintergründen, fast alle lachen. Er scheint sie glücklich gemacht zu haben. Freunde, Menschen, Berge, Meer … Szenen aus einem fremden Leben. Eins gibt es auch von uns, von uns allen, zu Weihnachten. Ich bin noch ein Baby auf dem Arm meiner Mutter, die zwischen Vater und Onkel Hugo im Hintergrund steht, davor, herrschaftlich in Sesseln, Oma und Opa,
da
vor, sitzend und sehr entschlossen, mein Bruder Sebastian.
Die zweite Schachtel enthält Lineale, Stifte, Zirkel, Radiergummis, Feuerzeuge, Tabak, Büroklammern und Reißzwecken. In der dritten und größten Schachtel finden sich, verschnürt und nach Datum sortiert, Briefe. Viele sind von Frauenhänden geschrieben: Silvia, Charlotte, Rahel, Jenevieve … Mein Onkel, den ich niemals mit einer Frau gesehen habe, war offenbar ein Herzensbrecher. Auch wenn keine von ihnen Spuren in diesem Haus hinterlassen hat.
Ich sehe das blaue Papier unter dem letzten Briefstapel hervorlugen, bevor ich ihn in die Hand genommen habe. Mit schief gelegtem Kopf betrachte ich das kleine, dunkle Dreieck mit dem silbernen Stern und frage mich, ob es tatsächlich das ist, was ich glaube, das es ist. Streng genommen weiß ich es, bevor ich es glaube. Meine Hand greift nach dem letzten Briefstapel und nimmt ihn aus dem Karton. Da liegt er, gefaltet und, ich bin sicher, auch von Onkel Hugo seit Jahren vergessen: der nachtblaue Papierflieger mit dem Sternenmuster.
Als ich ihn in Händen halte, erscheint er mir sehr viel kleiner als damals, und leichter. Ich drehe mich im Stuhl um meine eigene Achse. Onkel Hugo hat meinen ersten Paperflieger aufbewahrt, unseren Flieger, 20 Jahre lang.
»Was ist das?«
Zoe lehnt im Türrahmen, in T-Shirt und, wie ich annehme, einem Slip. Den allerdings sieht man nicht, weil das T-Shirt ihr bis auf die Oberschenkel reicht. Ein Männershirt. Ludgers Shirt, denke ich unwillkürlich. Ich schätze, das ist es, was man Eifersucht nennt. Ihre schwarz glänzenden Haare rahmen das Gesicht ein und verschmelzen mit dem Dunkel des Flurs. Ich würde sie |201| gerne berühren, wissen, wie es sich anfühlt, was mit mir geschieht.
Den Flieger wie einen Schmetterling in der flachen Hand haltend, hebe ich ihn empor. »Das hier?«, frage ich. »Eine lange Geschichte.«
Zoe blickt auf den Boden zu ihren Füßen. Ich glaube, sie würde gerne hereinkommen, doch sie merkt, dass ich mich gerade von meiner Kindheit verabschiede.
»Alles in Ordnung?«, fragt sie.
»Denke schon.«
Zoes Nase und Kinn werfen lange Schatten auf Wange und Hals.
»Wenn du sie mir erzählen willst – die lange Geschichte …« Sie schickt mir ein Lächeln über die Schwelle. »Wo du mich findest, weißt du ja.«
Ja, denke ich, schwimmend, im Mondschein.
[ Menü ]
|203| Vierter Tag
The world has it’s ways
To quiet us down
(Jack Johnson)
|205| 38
Von der Terrasse führen drei Holzstufen in den Garten hinunter. Auf der oberen sitze ich, als ich höre, wie hinter mir die Tür geöffnet wird und Zoe aus dem Haus kommt. Der Papierflieger liegt neben mir. Die Sonne ist kurz davor, über den Rand des Felsens zu steigen. Es ist fünf, vielleicht halb sechs. Als Zoe an mich herantritt, lege ich den Flieger zwischen meine Füße, damit sie sich neben mich setzen kann.
Der Himmel präsentiert sich
Weitere Kostenlose Bücher