Naechte am Rande der inneren Stadt
Eltern besucht, sein Bruder ist auch da gewesen. Er kam zurück und wollte sofort vögeln, aber er war so geladen,
ich konnte nicht. Ich werde nicht feucht so, sagte ich.
Ich legte mich neben ihn und streichelte ihn, er fing an zu erzählen, die Kerbe im blassen Gesicht sehr tief, die Augen halb
geschlossen, wie sein Bruder ihn mit sarkastischen Bemerkungen niedergemacht hätte. Dass er kein erwachsener Mann wäre und
keine Entscheidungen treffen könnte. Es ging um berufliche Pläne, Robert hatte eigentlich nur gesagt, dass er sich Zeit lassen
wollte bis zum Examen, dass er nicht sicher wäre, in welche Richtung er gehen wollte. Seine Mutter hätte sich aufgespult und
ihre fiese gepresste Stimme bekommen. Sie wollte nicht, dass die Brüder stritten, heizte ihnen aber noch mehr ein. Ich dachte
an meinen Besuch, ich hatte sie seitdem nicht mehr gesehen. Sein Vater, den wir damals vor der Tür getroffen hatten, war mir
vorgekommen wie ein unkörperliches, dickes Gespenst.
Robert redete immer weiter. Er nannte seine Mutter Elektra. Er redete über ihre Migräne und dass sie zu einem spirituellen
Zirkel ging, und ihre Leidenschaft für Filme und Bücher über den Holocaust.
Die Brüder haben sich so erbittert gezankt, dass Robert abgehauen ist. Plötzlich sehe ich die ganze Enge seiner Familie, gegen
die er sich wehrt, die tief in ihm drinsitzt, die Routinen, gegen die er anredet, während er ihnen selbst unterliegt. Und
plötzlich frage ich mich, ob ich diese Routinen vielleicht gefährde, obwohl er so tut, als wolle er sie nicht. Der Gedanke
blitzt nur auf.
Du bist der Spießer, gegen den du dich wehrst, sagte ich langsam, es kam aus mir herausgesprochen. Ich bereute es sofort.
Robert fing an, mit dem Kiefer zu malmen, was ich schon |275| lange nicht an ihm gesehen habe, und brach mit eisiger Stimme einen Streit vom Zaun, über Moral und Männerbilder. Er brauche
keine Anerkennung, behauptete er, und kenne keine Klischees. Er wurde immer starrer und kälter, aber ich ließ nicht locker,
bis er weinte und zugab, dass ihn seine Familie mit ihren Anforderungen erdrücke. Er schämte sich. – Es ist nicht leicht,
das alles auszuhalten. Doch es ist die Offenheit, die ich mir gewünscht habe.
Wir mussten lange reden, bis wir uns wieder beruhigten und einschliefen.
Es gibt ein geheimes Leben von uns beiden, miteinander.
Robert schreibt mir einen Brief, keinen Zettel wie sonst; ein grüner Briefumschlag. Ich öffne ihn und halte eine schwarzweiße
Fotokopie in den Händen, oben ein Foto, unten seine runde Schrift. Der Mann, oder ist es eine Frau?, hat die Augen ekstatisch
verdreht. Er ist aufgehängt wie Jesus am Kreuz. Ihm fehlt ein Bein, vom zweiten Bein gibt es noch die Hälfte; die Brust ist
herausgeschnitten: zwei klaffende Fleischlöcher. Ein anderer Mann hackt ihm gerade den Arm ab, Leute mit Kappen und langen
Zöpfen, eindeutig Chinesen, stehen drum herum und sehen zu.
Unter dem Foto steht in seiner Handschrift in blauer Tinte:
chinesische Folter, auch Folter der hundert Teile genannt
.
Bei dieser Folter werden einem Menschen bei lebendigem Leib Körperteile abgeschnitten. Der Betroffene erlebt eine religiöse
Ekstase.
Ich sehe das Bild an und fühle wieder diese Faust in meiner Kehle. Mir wird schlecht.
Ich muss warten und mich beruhigen, bevor ich lesen kann, was er schreibt.
Robert schreibt, er stelle sich vor, ohne Sprache zu sein, nicht sagen zu können, dass er mich liebe, und er liebe dieses Gefühl des Schmerzes, das ihn dann überkommt.
Das einzige Reale ist der Schmerz, sagt Kafka.
Er liebe mich brennend, er |276| empfinde keine Gewalt; es ist, als brauche er dieses Gefühl des Verlassenseins, des Einsamseins.
Ich liebe den Tod, den Tod in meiner Empfindung, er ist wie ein Tal, durch das ich wandern muss, um mich lebendig zu fühlen.
Ich tauche hinab und komme ans Licht, nur so kann ich existieren. Ich denke ununterbrochen an dich
,
dabei müsste ich lernen. Der berühmte kleine Tod in der Liebe kann mir gar nicht groß genug sein; du bist in der Lage, ihn
mir zu geben, deshalb liebe ich dich.
Er sei traurig und sein Kopf sei schwer. Er müsse noch viel mehr allein sein.
Ich lese diesen Brief und sacke zusammen. Etwas in mir zerreißt, ich fühle es deutlich. Ich kann dieses Foto nicht ansehen.
Es ist das Grausamste, was ich je gesehen habe. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich wollte ihn so lieben, wie er ist, doch
ich bin nicht in
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