Nächte in Babylon
Welt.
Obwohl der Dachboden so niedrig war, dass man nicht aufrecht stehen konnte, hatte Perec sich wohnlich darin eingerichtet. Mehrere Kissen, eine alter Computer, ein Drucker. Ein Videorekorder mit Kopfhörer. Türme von Videos – hauptsächlich Filme mit Anna. An allen Wänden und an der Decke hingen Ausdrucke von Anna-Mayhew-Fotos, die sie auf den unterschiedlichsten Etappen ihrer Karriere zeigten, Zeitungsartikel und Poster.
Perec hockte sich auf ein Sitzkissen, schaltete den Computer ein, ging ins Internet und googelte nach ihr, wie immer. Die heutige Ausbeute bestand in einer Vorankündigung, die darüber informierte, dass sie bei der Wiedereröffnung eines alten Kinopalastes in der Innenstadt auftreten würde. Perec merkte sich den Termin.
Auf Google findet man alles. Google ist was Wunderbares.
Als Nächstes suchte er unter »Bilder«. Der Monitor füllte sich mit Thumbnails von ihr. Perec atmete durch. Er öffnete eine Schachtel und nahm die mit Blut befleckten Aktfotos heraus. Seine Hände zitterten. Er zog sich aus. Sein magerer nackter Körper war mit feinen Narben übersät. Er legte sich auf den Boden, presste die Fotos an seine Brust und masturbierte. Hinterher schlug er sich wieder mit Fäusten. Wer so etwas tat, musste dafür büßen. Perec glaubte nicht an Gott, aber man brauchte keinen Gott, um zu wissen, dass man unrein war. Das Konto musste ausgeglichen sein. Er griff nach dem Rasiermesser seines Vaters. Perecs Füße waren ockerbraun, verfärbt von dem Blut, das den ganzen Tag aus den Schnitten in seinen Fußsohlen gesickert war. Genau dort setzte er die Klinge noch einmal an. Morgen würde er leiden müssen, aber das war es ihm wert.
14
Das Halcyon-Kino hatte mehr als dreißig Jahre leer gestanden. Wie ein Rentner hockte es neben dem Broadway und sah zu, wie die einstige Nobelgegend zum Glasscherbenviertel verkam, sich halbwegs wieder berappelte und nun, der Stadterneuerung sei Dank, langsam wieder auf dem Weg nach oben war. Man musste nur lange genug warten, dann kam alles wieder. Die Drogenhändler wurden vertrieben – ebenso wie die ethnisch gemischte Bevölkerung mit ihren kleinen Geschäften. Angelockt von der Witterung preiswerten Wohnraums, wanderten Schwule und Künstler zu, die sich bereits überall eingenistet hatten, bevor der Immobilienmarkt wusste, wie ihm geschah. Wenn die Reichen überhaupt eine Verwendung für Künstler haben, dann in erster Linie als Trüffelschweine für Immobilien. Man folge zum Beispiel einem aufstrebenden Maler bis zu seinem Unterschlupf, kaufe das Gebäude auf und jage ihn mit Hilfe überhöhter Mieten zum Teufel. Es ist eine todsichere Masche, die natürlich auch in der Innenstadt von L. A. funktioniert hat: Die Reichen kamen, die Künstler gingen, die Fabriketagen verwandelten sich in Penthouse-Lofts mit einem halben Dutzend Nullen auf dem Preisschild. Mit Drogen wurde immer noch gehandelt, aber die Dealer fuhren jetzt Porsche und überließen ihre Freundinnen zum Abtanzen den zugedröhnten jungen Filmfuzzis, die sich in den hippen neuen Clubs beim Staples Center die Nacht um die Ohren schlugen.
Das Halcyon hatte zu Beginn des letzten Jahrhunderts nicht als Filmtheater, sondern als echtes Theater das Licht der Welt erblickt, auf dessen Bühne Sarah Bernhardt in der Rolle des Hamlet verstörte – und faszinierte. Nachdem es pleite gegangen war, feierte es zunächst als Varieté fröhliche Auferstehung und verwandelte sich Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre in ein Revuetheater. Als sich während der Weltwirtschaftskrise zeigte, dass die Amerikaner gern bereit waren, für die Flucht aus der bitteren Realität ihre letzten Cents zusammenzukratzen, um sich bewegte, wenngleich noch stumme, Bilder anzusehen, wurde aus dem Halcyon ein Kinopalast. Bis weit in die Fünfzigerjahre hinein, als bereits die Stunde des Fernsehens geschlagen hatte, flimmerten hier Filme mit Stars wie William Powell und Myrna Loy über die Leinwand. Mit Müh und Not schleppte es sich noch bis in die Sechziger, das Zeitalter des Wassermanns und der freien Liebe, dann verkam es zum Pornokino. Auf derselben Leinwand, auf der einst Fred und Ginger getanzt hatten, besorgte Linda Lovelace es nun Johnny »Wad« Holmes auf Französisch.
Anna dachte: Hier braucht man nicht lange nach einer Metapher suchen.
Der ursprüngliche Eigentümer starb und hinterließ das Theater seinem Sohn. Dann starb der Sohn und hinterließ es seinen drei Kindern. Der Sohn meinte es gut mit
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