Nächte in Babylon
mir egal.«
Er setzte die Klinge an. Er konnte es nicht über sich bringen, die feinen Strähnchen einfach auf den Boden rieseln zu lassen, und fing sie mit der Hand auf. Aber dann schnitt er doch weiter. Wie lang ihr Haar war, wie schön. Darunter schimmerte ihr Nacken durch. Er hob den Haarvorhang an. So hell, so zart. Und der sanft gerundete Übergang in die Schultern. Er stellte sich vor, wie das Rasiermesser sacht über ihren Nacken glitt, um Hunderte fast unsichtbar feiner Härchen von der Haut zu lösen und sich eine Bahn von ultimativer Glätte zu schaffen. Und dann ein kleiner Ritzer am Halsansatz, fast ohne Schmerz, am Ende der spiegelblanken Bahn. Irgendeine Unvollkommenheit musste es geben. Das Fleisch war nie rein, nie ohne Makel. Das rote Tröpfchen auf der Haut, so klein, dass es nicht verlaufen konnte, wie ein Farbtupfer auf einer Leinwand.
Ihm wurde übel. Schnell sagte er zu Imelda, die mit einer anderen Kundin beschäftigt war: »Machen Sie hier weiter?«
»Gern, aber …«
Vornübergebeugt, wie unter Magenkrämpfen, rannte Perec aufs Klo. Hastig schloss er die Tür ab und machte seine Hose auf. Er kam schon nach wenigen Sekunden. Dann fing er an zu weinen und hieb mit den Fäusten wütend auf sich ein.
»Sale cochon, sale cochon …« , beschimpfte er sich auf Französisch, in der Sprache seiner Mutter. Dreckiges Schwein, dreckiges Schwein …
Die Arme fest um sich geschlungen, saß er zusammengesunken auf der Toilette und weinte. Fast war es ihm so, als ob es jemand anderer wäre, der ihn umarmte. Er kam erst wieder aus dem Klo, als er sich einigermaßen sicher sein konnte, dass die Thailänderin nicht mehr da war. Sie wollte gerade gehen. Perec bemerkte, wie sie Imelda einen Blick zuwarf. Sie hatten über ihn getuschelt. Seltsamer Kerl, dieser Perec. Was für ein Spinner. Perec wusste, dass die Leute ihn für einen Sonderling hielten. Aber da täuschten sie sich. Perec war nicht anders, er war wie alle. Er dachte, fühlte, begehrte, weinte. Genau wie sie. Nur konnte er nicht mit ihnen reden. Keiner hatte Zeit, keiner blieb lange genug stehen, bis Perec die Worte herausgebracht hatte oder auf irgendeine andere Weise zeigen konnte, was er empfand. Deshalb ließ er es bleiben. Man konnte sie ja doch nicht überzeugen, dass man im Grunde ein guter Mensch war, sogar besser als sie. Man durfte einfach nichts mehr fühlen. Anders ging es nicht. Man musste stark sein.
»Alles in Ordnung?«, fragte Imelda. »Haben Sie sich den Magen verdorben?«
»Ja.«
»Sie waren bestimmt in dem Sushi-Laden an der Ecke, stimmt’s? Die hätten mich vor ein paar Tagen fast vergiftet. Ich wette, es war der Fisch. Ich bin den ganzen Tag nicht mehr vom Klo gekommen. Ich sag’s ja immer, bei schönem Wetter darf man kein Sushi essen …«
Sie redete und redete. Perec schaltete seinen Verstand auf Leerlauf.
13
Perec wohnte mit seiner Mutter neben dem Angelus-Friedhof, keinen Kilometer vom Salon entfernt. Er ging zu Fuß zur Arbeit. Er besaß kein Auto, und er fuhr nicht gern mit dem Bus, weil er den Geruch der Leute und ihre grimmigen Mienen nicht ertragen konnte. Wie an jedem Tag kaufte er auf dem Heimweg im Supermarkt fürs Abendessen ein. Er humpelte, seine Füße taten ihm weh. Bei jedem Schritt verzerrte er vor Schmerz das Gesicht. Seine Schuhe gaben leise Schmatzgeräusche von sich. In der Straße spielten schwarze und hispanische Kinder. Sie starrten ihn an, sagten aber nichts. Das machten nur die Jugendlichen. Die sagten Sachen zu ihm, doch auch sie hielten sich von ihm fern, als ob sie wüssten, wie er sich fühlte: dass er sich nicht vor ihnen fürchtete, weil er nichts zu verlieren hatte. Der Tod konnte Perec nicht schrecken, im Gegenteil. Den Gedanken an unendliche Einsamkeit und tiefen Frieden empfand er eher als beruhigend.
Gut möglich, dass das alte, einstöckige Häuschen früher einmal schmuck und adrett ausgesehen hatte, zu Zeiten von Perecs Vater vielleicht, aber daran erinnerte er sich nicht mehr. Der Vorgarten bestand aus trockenen Grasbüscheln, und der betonierte Gartenweg war eine einzige rissige Stolperfalle. Die Fenster waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Er hinkte die Treppe hinauf, öffnete die Tür und stand im Dunkeln, aus dem ihm der trocken-staubige Geruch seiner Mutter entgegenschlug.
»Ich bin wieder da, Maman!«, rief er auf Französisch.
Er bekam keine Antwort, aber er hatte auch keine erwartet. Im Wohnzimmer plärrte die Glotze.
Nachdem er in der Küche die
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