Nächte in Babylon
dass er nach hinten taumelte, und prügelte weiter auf seine Tochter ein. Perec wusste nicht, wie er ihr helfen sollte, aber dann fiel ihm das Rasiermesser ein.
Er schnappte es sich und zog es Debord über den Rücken. Brüllend fuhr der Mann herum und wollte sich auf ihn stürzen, doch Perec duckte sich zwischen seinen Armen hindurch, als ob er sich von ihm umarmen lassen wollte, riss die Hand hoch und schlitzte ihm die Kehle auf. Debord blieb wie vom Blitz getroffen stehen, starrte Perec mit weit aufgerissenen Augen an, als ob er nicht begriff, was soeben geschehen war, und fasste sich mit beiden Händen an den Hals.
Erst als ihm bewusst wurde, dass ihm das eigene Blut durch die Finger sprudelte, machte sich auf seinem Gesicht Panik breit. Amalie schrie, und Perec hielt ihr den Mund zu. Sie kämpfte gegen ihn an, aber er nahm die Hand nicht weg, während Debord immer bleicher wurde, auf die Knie sank, auf den Boden kippte und sich gurgelnd und röchelnd in einer sich ausbreitenden Blutlache wälzte.
Perec empfand nichts, aber er verfolgte gebannt, wie Debord endlich zu zucken aufhörte und reglos liegen blieb. Amalie riss sich von Perec los und floh die Treppe hinunter. Perec rannte hinter ihr her. Am ganzen Leib zitternd stand Amalie vor dem Telefon. Sie konnte sich nicht an die Nummer erinnern, wusste nicht einmal mehr, wen sie anrufen wollte. Perec nahm ihr den Hörer aus der Hand und legte ihn auf die Gabel.
»Bleib mir vom Leib!«, schrie sie. »Fass mich nicht an!«
Perec verstand nicht, warum sie sich vor ihm fürchtete. Ihr Misstrauen kränkte ihn, es machte ihn sogar ein bisschen wütend. Amalie stand da und starrte ihn mit angstvollem Blick an. Perec riss das Telefon aus der Wand. Während sich Amalie auf das Ende gefasst machte, drehte Perec sich um und ging zurück auf sein Zimmer. Er wusch sich die Hände, und weil ihm Debords Blut auch auf das Hemd und die Hose gespritzt war, zog er sich um. Dann stopfte er ein paar Sachen in seinen Rucksack und ging die Treppe wieder hinunter. Amalie saß auf der untersten Stufe, die Hände vors Gesicht geschlagen. Perec blieb vor ihr stehen. Er wollte etwas sagen, aber er wusste nicht, was. Amalie hob den Kopf.
»Geh«, sagte sie. »Geh.«
Wieder vergrub sie das Gesicht in den Händen. Perec streckte die Hand aus und legte sie auf ihr weiches Haar. Vielleicht spürte sie es, aber sie sagte nichts. Perec trat in den dunklen Morgen hinaus. Und sah nicht mehr zurück.
Bis es hell wurde, waren es noch mindestens drei Stunden. Perec drückte sich durch kleine Straßen und Gassen, bis er zu Fuß den Stadtrand erreicht hatte. Als er an seinem Ziel ankam, ging die Sonne auf. Er schob den Rucksack vor sich in den Tunnel und schlängelte sich hinterher. Das Eisengitter zog er mit dem Fuß hinter sich zu, die durchgekniffene Kette und das Vorhängeschloss nahm er mit, um keine Spuren zu hinterlassen. Er folgte dem Stollen bis zum Ende und kletterte zwischen den Wänden nach oben. Auf dem Dachboden suchte er sich ein Versteck hinter einer niedrigen Mauer und schlief tief und fest ein.
8
Der Flughafen Nizza-Cannes ist architektonisch ungefähr genauso aufregend wie eine Spezialklinik für Geschlechtskrankheiten. Am reizvollsten und teuersten Küstenstreifen der Welt gelegen, wirkt er wie von amischen Mennoniten entworfen, die danach trachteten, ihm auch noch das letzte Fitzelchen sündhafter Schönheit auszutreiben. Mit Erfolg. Man hat nämlich keineswegs das Gefühl, an der Riviera gelandet zu sein, sondern würde sich im Gegenteil nicht wundern, wenn der Pilot weit am Ziel vorbeigeschossen wäre – und einen in einem englischen Seebad abgesetzt hätte.
Erst nachdem man das Flughafengebäude auf der anderen Seite verlassen hat, wird man für diesen Schreck ein wenig entschädigt.
Auch wenn es der weltmännische Feingeist nicht gern hört: Cannes und Nizza sind ein und dieselbe Stadt. Und zwischen den beiden blühenden und vor Kraft strotzenden Nachbarn liegt das verschlafene kleine Antibes, wie ein Hündchen in der Besucherritze eines Hochzeitsbettes.
Ob nun in geografischer oder in kultureller Hinsicht – man kann kaum erkennen, wo Cannes aufhört und Nizza anfängt. Und umgekehrt. Deshalb erleichtert es die Unterscheidung, wenn man sie sich als das Abbott-und-Costello-Duo unter den Städten vorstellt. Auf der einen Seite Witz und Unterhaltungswert, auf der anderen ein ausgeprägter Geschäftssinn. Für Glanz, Glamour und Ausschweifungen steht Cannes, die
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