Namibische Nächte (German Edition)
natürlich geändert. Viele Stadtviertel sind jetzt gemischt, so wie unseres. Da wohnen Schwarze, Farbige und Weiße zusammen. Die Farbigen sind ein eigener Stamm, die möchten nicht mit den Schwarzen zusammengeworfen werden. Das ist wieder eine andere Geschichte: dass hier oft der eine Stamm mit dem anderen nichts zu tun haben will. Da geht es nicht um schwarz oder weiß, wie das die Leute in Europa oft denken, sondern da geht es um einen schwarzen Stamm gegenüber dem anderen. Oder die Farbigen gegenüber den Schwarzen. Das ist hier allgegenwärtig. Es nennt sich Tribalismus . Stammesdenken. Ist immer noch sehr verbreitet. Solche alten Vorstellungen abzubauen, das geht nicht so schnell.« Sie hielt an. »So, wir sind da.«
Vanessa hatte Andreas Erklärungen so fasziniert gelauscht, dass sie das Krankenhaus fast nicht wiedererkannt hatte. »Das ist alles ganz anders, als ich mir das vorgestellt habe«, sagte sie. »Einerseits so ein modernes Krankenhaus und auf der anderen Seite Stammesdenken.«
Andrea lächelte. »Namibia ist das Land der Kontraste.« Sie hob entschuldigend die Hand. »Ich kann leider nicht mitkommen, ich muss zur Uni. Aber du brauchst nur an der Rezeption zu fragen, dann sagen sie dir alles, was du wissen musst.«
Vanessa stieg aus. »Danke«, sagte sie. »Ich hoffe, ich bin dir nicht zu sehr zur Last gefallen.«
»Ach was.« Andrea winkte ab. »Ist doch selbstverständlich.«
Vanessa schloss die Tür, und Andrea fuhr vom Parkplatz.
Nur zögernd betrat Vanessa das Krankenhaus. Gestern hatte die Ambulanz vor dem Notfalleingang gehalten, der Haupteingang lag auf der anderen Seite der Klinik, mit einem großen Besucherparkplatz davor. Von dieser Seite wirkte das Gebäude viel größer.
Ein afrikanisches Krankenhaus hatte Vanessa sich definitiv anders vorgestellt. Ihr schwirrten Bilder von Albert Schweitzer im Kopf herum. Ein Krankenhaus mitten im Busch. Aber Windhoek war denn doch etwas anderes.
Sie ging hinein und auf die große, weiße Empfangstheke zu. Es sah fast aus wie in einem Hotel. Die kleine Theke hinten im Notfallbereich hatte wesentlich bescheidener gewirkt.
Sie erkundigte sich auf Englisch nach Kian.
Der Angestellte schaute in seinen Computer. »Er ist noch in der ICU«, antwortete er. »Keine Besuche.«
Vanessa bekam einen Schreck. ICU, das bedeutete Intensivstation. War bei der Operation etwas schief gegangen?
»Vanessa!« Kaunadodo kam auf sie zu.
Wie auch gestern trug er keinen Arztkittel, sondern einen seidenweichen, dunkel gestreiften Anzug.
»Schön, dass du da bist«, sagte er und schüttelte ihr die Hand. »Kian hat schon nach dir gefragt.«
Vanessa schluckte. »Er ist wach?«
»Schon lange«, lachte er. »Er will schon wieder nach Hause!«
»Ich dachte, er wäre noch in der ICU?«
»Das ist normal nach einer Operation«, sagte Kaunadodo. »Er sollte da auch noch mindestens einen Tag bleiben. Die Kugel saß wirklich sehr nah am Herzen.«
Schon allein die Vorstellung ließ ihr kalte Schauer über den Rücken fahren. »Aber es geht ihm gut?«
Kaunadodo nickte. »Sein Herz ist so stark, ich glaube, selbst wenn die Kugel dringesteckt hätte, hätte er überlebt.«
»Das möchte ich mir lieber nicht vorstellen«, sagte Vanessa.
»Musst du ja auch nicht.« Er winkte. »Komm mit.«
Sie folgte ihm durch die Schwingtür mit der Aufschrift ICU. In dem Gang dahinter standen leere Krankenbetten. Daran vorbei führte Kaunadodo sie rechts durch eine Tür.
Sie sah nichts außer Vorhängen, weißen Vorhängen. Kaunadodo ging auf einen davon zu und zog ihn auf. »Bitte sehr«, sagte er mit einer weit ausholenden Armbewegung, die einem Schauspieler auf der Bühne Ehre gemacht hätte.
Sie zögerte, dann gab sie sich einen Ruck und trat auf den geöffneten Vorhang zu.
Kian schaute sie mit offenen, klaren Augen an. Ein Lächeln hob seine Mundwinkel, als er Vanessa sah. »Du hättest nicht kommen müssen.«
»Was sollte ich wohl sonst in Windhoek tun?« Sie trat näher ans Bett, in dem er lag, umgeben von Monitoren und Schläuchen. Am liebsten hätte sie sich auf ihn gestürzt, ihn umarmt, seine Wärme und Lebendigkeit gespürt, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Aber sie beherrschte sich. Unter Kaunadodos Augen war das nicht angebracht. Und überhaupt –
»Einkaufen. Die meisten kaufen ein, wenn sie ins Dorf kommen«, sagte Kian.
»Ins Dorf?« Sie hob erstaunt die Augenbrauen.
»So nennen die Südwester Windhoek, ganz egal, wie groß es mittlerweile
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