Nanking Road
tatsächlich vorbei war mit mir und Elwi. Vorbei, ohne uns gestritten, ohne unsere Freundschaft auch nur durch ein einziges Wort beendet zu haben. Meine Schul freundin hatte ich sie sein lassen wollen, aber daran, dass ich eines Tages noch vor ihr meine Rolle erfüllt haben würde, hatte ich nie gedacht.
Als wir aus der Pause zurückkamen, fragte Elwi gedämpft: »Wäre es dir lieber, ich würde mich woanders hinsetzen, Ziska?«
»Es ist mir gleichgültig, wo du sitzt, Elwi«, erwiderte ich kühl. »Bleib nur, mich stört’s nicht.«
»Das wäre mir sehr recht. Dann könnte ich in Hebräisch weiter von dir abschreiben«, sagte sie mit verbindlichem Lächeln.
Ich hob den ihr zugewandten Mundwinkel zum Zeichen, dass das Friedensangebot angekommen war. Man musste schließlich nicht befreundet sein, um nebeneinander die Schulbank zu drücken. Man musste sich nicht in den Haaren liegen, bloß weil man ab jetzt nur noch befreundet gewesen war.
Und man konnte noch miteinander reden, während Mischa, dieser Feigling, von nun an einen schuldbewussten Bogen um mich machte. Wahrscheinlich hoffte er, alles, was zwischen uns nicht gesagt worden war, erledigte sich auf diese Weise ganz von selbst.
Ob er wusste, dass sein Vater ein wenig nachhalf? Beim Ausliefern von Papas Aufträgen begegnete ich Onkel Victor oft, da er jeden Nachmittag am selben Platz auf dem Flohmarkt in der Kung Ping Road stand. Nachdem Mischa und mir die Freundschaft abhanden gekommen war, machte ich die erste Zeit einen Umweg um diese Straße, um seinem Vater nicht über den Weg laufen zu müssen. Ich war beschämt, als ob ich etwas Peinliches verbrochen hätte.
Erst als ich mich einigermaßen gefasst hatte, fühlte ich mich darauf vorbereitet, Onkel Victor gegenüberzutreten. »Hab mich schon gefragt, wann du mir wieder in die Augen sehen kannst«, bemerkte er, noch bevor ich auch nur dazu kam, Hallo zu sagen.
Ich bückte mich und tat, als müsste ich die Decke zurechtzupfen, auf der seine Töpfe und Bestecke lagen. Es gab keinen anderen Menschen, der mich so zuverlässig zum Heulen bringen konnte wie der kluge, unbarmherzige Onkel Victor.
»Unter uns Berlinern«, brummte er, »du bist ein knorke Mädchen. Das hab ich schon erkannt, als du dich damals nach dem Apfel gebückt hast. Ich hätte mir das alles anders gewünscht, das kannst du mir glauben, aber so ist es nun einmal. Du würdest deine Eltern nie alleinlassen.«
»Meine Eltern alleinlassen?« Ich hob den Kopf und starrte ihn an.
»Wir gehen nach Australien«, sagte Onkel Victor. »Ihr nicht. Und bis wir hier wegkommen, werden auch wir alles verloren haben. Viel Zeit für einen Neuanfang bleibt nicht, Fehlstarts kann sich keiner erlauben. Da muss alles stimmen, und das Wichtigste sind die Menschen, mit denen wir uns umgeben. Deshalb gehst du mit deinen Eltern und es ist besser, wir trennen uns, bevor die Freundschaft zwischen dir und Mischa noch enger wird.«
»Aber so eng …« Ich musste schlucken. »So eng war sie doch gar nicht.«
»Herzchen, das hast du nur nicht gemerkt«, sagte Onkel Victor und sah mich so enttäuscht und vorwurfsvoll an, als wäre ich diejenige, die alles vermasselt hatte.
Den Blick hatte ich länger nicht gesehen, aber er trocknete meine Tränen augenblicklich.
»Quatsch«, sagte ich streng. »Mischa und ich waren Kindheitsfreunde. Wenn einer Angst davor hatte, dass mehr daraus wird, dann kannst das nur du gewesen sein.«
»Und ich habe dir gerade erklärt, warum«, erwiderte er streng. »Du bist sechzehn, Mischa achtzehn. Man kann in eurem Alter nicht mehr so befreundet sein, wie ihr euch das vorstellt. Das hätten dir deine Eltern«, fügte er missmutig hinzu, »auch ruhig selber sagen können!«
Plötzlich war ich so wütend, dass ich am liebsten über seine Decke hinweggetrampelt wäre, um ihn zu schubsen. Stattdessen brüllte ich aus zwei Metern Entfernung und dass alle um uns herum interessiert zuhörten, war mir egal.
»Weil man das angeblich nicht kann, nehmt ihr mir gleich beide Freunde, ja? Nein, jetzt hörst du mir mal zu, Onkel Victor! Vielleicht hast du Recht, vielleicht kommen wir irgendwann aus Shanghai heraus. Aber wenn man in der Zwischenzeit irgendetwas nicht macht, dann den Leuten ihre Freunde wegzunehmen, ohne die sie diesen ganzen Dreck hier nicht überleben!«
Onkel Victors Kiefer klappte betroffen herunter. Ich trat einen Schritt zurück. »Ich hoffe, ich muss dich nie wiedersehen, Onkel Victor«, sagte ich.
»Ziska«, begann er,
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