Narkosemord
zu fahren traute Jeffrey sich nicht. Zu Hause würde O’Shea ihn bestimmt zuerst suchen. Eigentlich traute er sich überhaupt nirgends hin - nicht zur Busstation und nicht zum Bahnhof, weil er fürchtete, daß die Behörden bereits nach ihm suchten. Nach allem, was er wußte, konnte bereits jeder Polizist in ganz Boston auf der Suche nach ihm sein.
Vielleicht würde er Randolph anrufen, um zu hören, was der Anwalt tun konnte, um den Status quo wiederherzustellen, wie er vor seiner Fahrt zum Flughafen gewesen war. Optimistisch war Jeffrey nicht, aber die Möglichkeit war immerhin einen Versuch wert. Und vermutlich würde er gut daran tun, sich ein Zimmer zu nehmen, allerdings nicht in einem der besseren Hotels. In denen würde O’Shea ihn wahrscheinlich als nächstes suchen.
Er beugte sich zur Plexiglastrennscheibe vor und fragte den Fahrer, ob er irgendwelche billigen Hotels kenne. Der Taxifahrer überlegte kurz. »Na ja«, sagte er dann, »da war’ wohl das Plymouth.«
Das Plymouth war ein großes Motel. »Nein«, erwiderte Jeffrey, »etwas weniger Bekanntes. Von mir aus kann’s ruhig ein bißchen schmuddelig sein. Ich suche was Abgelegenes, Unauffälliges.«
»Das Essex«, sagte der Fahrer.
»Wo ist das?« fragte Jeffrey.
»Hinter der Combat-Zone«, antwortete der Fahrer. Er beäugte Jeffrey im Rückspiegel, um zu sehen, ob der Mann wußte, wovon er sprach. Das Essex war eine Absteige, mehr ein Bums als ein Hotel. Viele Callgirls aus der Combat-Zone kamen dorthin.
»Es gehört also eher zur unteren Klasse?« fragte Jeffrey.
»Ungefähr so tief unten, wie ich freiwillig sinken würde«, meinte der Fahrer.
»Scheint mir genau das Richtige zu sein«, sagte Jeffrey. »Fahren wir hin.«
Er lehnte sich zurück. Der Umstand, daß er vom Essex noch nie gehört hatte, war vielversprechend; er lebte immerhin seit fast zwanzig Jahren in der Gegend von Boston - seit Beginn seines Medizinstudiums.
Der Fahrer bog von der Arlington Street nach links in die Boylston und fuhr in Richtung Zentrum. Dann ging es mit der Gegend steil bergab. Im Gegensatz zu den vornehmen Vierteln um Boston Garden gab es hier leerstehende Häuser, Pornoläden und müllübersäte Straßen. Obdachlose lagerten in Hausdurchgängen und kauerten auf den Treppen der Mietshäuser. Als das Taxi vor einer Ampel anhielt, hob ein pickliges Mädchen in einem obszön kurzen Rock vielsagend die Brauen und schaute Jeffrey an. Es konnte höchstens fünfzehn Jahre alt sein.
Der rote Neonschriftzug vor dem Essex Hotel war passenderweise zu sex EL verkümmert; die anderen Buchstaben waren erloschen. Als Jeffrey sah, wie heruntergekommen der Laden ausschaute, zögerte er doch einen Augenblick lang. Er spähte aus dem sicheren Taxi nach draußen und musterte wachsam die schmutzige Ziegelfassade des Hotels. Schmuddelig war ein zu freundliches Adjektiv. Vor der Eingangstreppe schnarchte ein Betrunkener, die braune Tüte mit der Flasche noch im Arm.
»Sie wollten was Billiges«, sagte der Taxifahrer. »Billig ist es.«
Jeffrey gab ihm einen Hunderter aus seinem Koffer.
»Haben Sie’s nicht kleiner?« beschwerte sich der Mann.
Jeffrey schüttelte den Kopf. »Zweiundvierzig Dollar habe ich nicht.«
Der Fahrer seufzte und veranstaltete ein weitschweifiges, passiv-aggressives Ritual beim Abzählen des Wechselgelds. Jeffrey kam zu dem Schluß, es sei besser, keinen wütenden Taxifahrer in seinem Kielwasser zurückzulassen, und gab ihm zehn Dollar Trinkgeld. Bevor er abfuhr, sagte der Mann jetzt sogar: »Danke und ’nen schönen Abend noch.«
Jeffrey betrachtete das Hotel. Rechts davon stand ein leeres Gebäude, dessen Fenster bis auf die im Erdgeschoß mit Sperrholz vernagelt waren. Im Erdgeschoß war eine Pfandleihe und ein Laden mit Pornovideos. Links schloß sich ein Bürogebäude an, das in einem ähnlich heruntergekommenen Zustand war wie das Essex. Dahinter kam ein Schnapsladen, dessen Fenster wie bei einer Festung verbarrikadiert waren. An den Schnapsladen grenzte ein leeres Grundstück, das von Müll und zerbrochenen Ziegelsteinen übersät war.
Mit seinem Aktenkoffer sah Jeffrey hier entschieden deplaziert aus, als er jetzt die Treppe hinaufging und das Essex betrat.
Das Innere des Hotels hatte ebensoviel Klasse wie sein Äußeres. Das Mobiliar im Foyer bestand aus einer einzelnen, abgenutzten Couch und einem halben Dutzend Stahlrohrklappstühlen. Die einzige Wanddekoration war ein nacktes Münztelefon. Es gab einen Aufzug, aber an der Tür hing
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