Narrenspiel: Peter Nachtigalls dritter Fall (German Edition)
seinem Erstaunen hatte Rolf Bartel ein stichhaltigeres Argument.
»Na, wir haben stapelweise Post von denen bekommen. Mit Aufrufen zur Besinnung und zur Umkehr. Die spinnen doch! Und ein Schreiben war ein echter Drohbrief.«
Nachtigalls Augen fixierten Rolf, der augenscheinlich sofort erkannte, dass ihm ein Fehler unterlaufen war, und unbehaglich von einem Bein auf das andere trat. Nachtigall schwieg. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf Rolfs Stirn und Oberlippe, die fleckige Röte, die sein Gesicht überzog, ließ die Narben einer früheren Akne deutlich hervortreten. Nervös zuckten seine Lippen ein klägliches Lächeln zurecht.
»Das hätte ich wohl früher erwähnen sollen, stimmt’s? Aber wenn man über die was Schlechtes sagt, sieht es immer gleich so aus, als habe man Vorurteile.« Er beugte sich zu Nachtigall hinüber, als wäre die nun folgende Information streng vertraulich. »Sein ältester Sohn ist schließlich auch einer von denen, einer von den Führenden. Da werden die doch wohl nicht seinen Vater umgebracht haben, oder?« Der Blick, den er dem Hauptkommissar zuwarf, war voller Unsicherheit und Hoffnung, als könne Nachtigall ihm versichern, dass so etwas tatsächlich undenkbar sei. Doch das konnte er nicht. Peter Nachtigall wusste nur zu gut, Eltern schreckten nicht davor zurück, ihre Kinder zu töten, und Kinder zögerten nicht, ihren Eltern das Leben zu nehmen. Die Kriminalstatistik sammelte und belegte die Fälle sachlich und emotionslos.
»Wissen Sie, der Paul, der war neulich hier und da hat es einen Riesenstreit gegeben. Aber das war fast immer so, wenn die beiden aufeinander getroffen sind. Im Vorbeigehen hab ich was von Mord gehört, aber gedacht, das ist nicht ernst, nur so dahergeredet.«
»Wann war Paul Mehring hier?«
»Das muss am Freitag gewesen sein, kurz vor der letzten Probe. Er ist dann zornig mit dem Rad davongedüst. Und der Hans-Jürgen hat die Probe geleitet, als wäre nichts gewesen. Er hat das Geschrei wohl auch nicht ernst genommen.« Rolf zuckte betroffen mit den Schultern.
›Vielleicht ein nicht wieder gutzumachender Fehler‹, dachte Nachtigall.
Im Büro suchte Rolf Bartel den Ermittlern die Mappe mit den Anschreiben der Mind Watchers heraus.
Fein säuberlich nach Datum sortiert fanden sich hier ungefähr 30 Briefe mit dem immer gleichen Duktus. Sie trugen das Logo der Organisation, den Leitspruch und danach folgte ein Hinweis, wie überholt es sei, einen ursprünglich heidnischen Brauch im 21. Jahrhundert noch fortzusetzen, wo doch niemand mehr an die Geister des Winters glaube, die damit ausgetrieben werden sollten. Karneval sei zu einem Fest verkommen, in dem jeder tat, als gäbe es einen Freibrief für hemmungslosen Alkoholkonsum und zügellosen Sex. Beides schade bekanntlich dem Geist des Menschen. Die ›drei goldenen Haare‹ sollten die Chance nutzen und umkehren, ihr Bewusstsein vor solchen Angriffen der Dumpfheit schützen und vor allem Kinder vor der Verführung bewahren, statt sie mit in den Sumpf hineinzuziehen und zu zwingen sich dieser sinnlosen Beschäftigung hinzugeben.
Aha, konstatierte Nachtigall, harter Tobak. Er verstand das Anliegen der Mind Watchers gut, einige ihrer Forderungen hätte er auch sofort unterstützt, doch in dieser radikalen Aufmachung würden sich die neuen Retter der Gesellschaft sicher nicht viele Freunde machen.
»Wo ist denn nun der Drohbrief?«
»Hier«, mit spitzen Fingern zog Rolf das unterste Blatt aus der Mappe hervor.
»Wir haben ihn ganz nach unten geschoben, weil er ja sonst zumindest eine Zeit lang beim Aufschlagen immer obenauf gelegen hätte. Ist ja nicht gerade angenehm, oder?«
Nein, das war es sicher nicht, beantwortete Nachtigall diese rhetorische Frage im Stillen. Dieses Schreiben hatte kaum Ähnlichkeit mit den anderen Briefen der Gruppierung. Zwar fanden sich Logo und Leitspruch im Briefkopf, aber die Sprache war völlig anders, der Text unmissverständlich.
»Du uneinsichtiges Schwein, du wirst sterben! Bereite dich vor!«, las Nachtigall halblaut.
»Natürlich keine Unterschrift«, stellte Skorubski mit einem raschen Seitenblick fest.
»Ja, stimmt. Bei den anderen steht immer die Gruppe drunter. Herr Mehring war aber trotzdem überzeugt, dieser Brief sei auch von den Mind Watchers?«
»Ja, klar. Ist ja ihr Logo drauf«, Rolf Bartels Finger zitterten, als er auf den Briefkopf wies.
»Woher wusste denn Herr Mehring, dass die Drohung ihm galt. Sie hätte doch auch für jedes andere
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