Narrenspiel: Peter Nachtigalls dritter Fall (German Edition)
Anknüpfungspunkt.
»Und ihr Bruder kam besser mit ihm aus?«
»Nein – natürlich nicht. Er bemühte sich lediglich weniger Angriffsfläche zu bieten und zog immer gleich den Schwanz ein, wenn er Ärger am Horizont auftauchen sah. Im Gegensatz zu mir ist er nicht jähzornig. Er duckt sich, wälzt sich im Schlamm und tut, was Papi will. Es war widerlich. Aus Angst, etwas Falsches zu tun, hat er immer vorher gefragt – bei allem. Selbst seine Kleidung ließ er sich vorschreiben. Ein Duckmäuser, wie er im Buche steht«, antwortete Paul in abfälligem Ton.
»So hat er weniger Schwierigkeiten bekommen als Sie?«
»Nein – wenn er gegen irgendetwas verstieß, war die Reaktion heftiger als bei mir. Vielleicht lag das daran, dass von mir Widerstand die erwartete Reaktion war und bei ihm nicht.«
»Er bekam also häufiger Probleme mit Ihrem Vater als Sie?«
»Nein – aber mir schien manchmal, er stünde unter besonderer Beobachtung. Fragen Sie ihn am besten selbst!«
»Ein Zeuge hat einen heftigen Streit zwischen Ihnen und Ihrem Vater gehört – am Freitag.«
Eine kräftige Zornesfalte bildete sich steil über Pauls Nase.
»Ja, wir haben gestritten. Ist das jetzt das Indiz, das Ihnen noch gefehlt hat? Paul Mehring und sein Vater haben sich auf offener Straße angeschrien – da hat er ihn auch bestimmt erstochen.«
»So einfach machen wir es uns bei unseren Ermittlungen nicht! Wir möchten aber schon gerne wissen, worum es bei der Auseinandersetzung ging«, hielt Nachtigall dagegen.
»Familienangelegenheit.«
»Ich fürchte, das reicht nicht.«
»Das Übliche eben! Ich hatte meine Mutter besucht und er war dazu gekommen. Sofort fing er wieder mit seinem Gerede über meine Beziehung zu Katharina an, beschimpfte mich als Versager. Dann fuhr er davon und ich radelte hinterher. Vor der Turnhalle trafen wir wieder aufeinander und ich habe ihm meine Auffassung ins Gesicht gebrüllt. Danach bin ich nach Hause gefahren – und gut. Ich habe ihn nicht umgebracht.«
»Ihre Freundin kannten Sie schon vor Ihrem Kampf für die Mind Watchers?«
»Das ist nett, wie Sie das sagen. Sehen Sie, wie unsere Sprache uns verrät? Es gibt viele Worte, die Sie hätten wählen können, doch Sie verwendeten das Wort Kampf. Wir wollen Ihnen nicht verbieten sich so auszudrücken – aber wir möchten Ihr Bewusstsein schärfen für die alltägliche Brutalität, auch in unseren Worten. – Und ja, ich kannte meine Freundin schon, bevor ich die Mind Watchers gründete.«
Albrecht Skorubski zeigte auf eine Holzkiste mit bunten Bauklötzen.
»Wie alt ist Ihr Kind denn?«
Die Veränderung in Paul Mehrings Gesicht war bemerkenswert. Es war, als breite sich ein Leuchten darin aus, seine Augen strahlten und ein Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Wenn Sie so wollen, ist es mein Kind. Lucas ist der Sohn von Katharina, meiner Freundin. – Auch so ein Dauerthema für meinen Vater: Wer Kinder haben wolle, der solle sie gefälligst selbst zeugen! So ein Quatsch. Wir sind eine glückliche Familie, Lucas ist ein prima Kerl und für ihn bin ich sein Vater, wie er für mich mein Sohn ist. Der leibliche Vater will weder Mutter noch Kind je wieder sehen, zahlt aber monatlich Unterhalt für den Jungen.«
»Ihr Vater wollte lieber einen leiblichen Enkel«, stellte Skorubski fest und signalisierte ein gewisses Verständnis für diese Haltung.
»Das ist eine lächerliche Einstellung! Borniert, überholt, dumm! Aber genau darüber haben wir uns am Freitag auch wieder gestritten!«, schrie Paul wütend.
Unvermittelt standen Tränen in Pauls Augen und Peter Nachtigall erkannte, wie schnell dessen Stimmungen kippen konnten. Für gefährlich hielt er ihn zwar nicht, aber er war eindeutig emotional nicht gut ausbalanciert.
Während der junge Mann ungeschickt versuchte, sich die Tränen abzuwischen, erhob er sich und setzte den Wasserkocher in Gang. Nachtigall musterte den verzogenen Norwegerpulli, der bestimmt drei Nummern zu groß war und schon viele Winter gesehen haben musste. Über der launenblauen Kleidung wirkte er wie ein Fremdkörper. So wie Paul Mehring hatten für ihn immer Ökos ausgesehen, Kernkraftgegner, Flugplatzbekämpfer, Frösche-über-die-Straße-Träger oder Großtrappen-Überwacher – Umweltaktivisten eben. Viele der Ziele ähnelten denen der neuen Bewegung, doch die Mind Watchers hatten weitergehende Pläne – sie wollten die Gesellschaft verändern. Gewaltlosigkeit war ein Ziel, das Nachtigall sehr sympathisch war, aber
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