Narrentanz - Bürkl, A: Narrentanz
hinter dem dicken grauen Wolkenvorhang und würde hoffentlich durchgelassen werden, um ihren Auftritt zu haben.
An der Kirche vorbei bog Berenike auf den Fußweg um den See ein. Es war still, so still. Nur ein paar Meisen zwitscherten fröhlich und einzelne Fußspuren störten die Perfektion der frischen weichen Schneedecke. Das himmlische Weiß deckte alles zu, machte aus Altaussee eine Zauberwelt. Der pulvrige Schnee zerstob unter Berenikes Schritten. Leise knirschend sprach er zu ihr, wenn ihre Sohlen ihn berührten, gab aber das Rätsel auch nicht preis.
Berenike überlegte, wie sie am besten vorgehen sollte. Sie wollte zur Seewiese vordringen, sich dort umsehen. Wenn etwas zu bemerken war, würde sie es Jonas mitteilen. Nach einer Weile kam sie zu einer Lawinenwarnung und dass das Betreten des Weges verboten sei. Zwei ältere Spaziergängerinnen kamen ihr entgegen.
»Griaß di«, lächelte eine.
»Kann man den Weg begehen?«, fragte Berenike schnell.
»Ja, des geht. Passiert schon nix.«
Berenike folgte nun einem noch schmaleren Trampelpfad und beobachtete mit allen Sinnen die Umgebung. Vielleicht würde sie eine Spur von Dr. Watson finden. Irgendwo musste er doch sein, und wenn sie das ganze Ausseerland absuchen musste! Wenn er wirklich gefangen war und nicht schon tot. Sie schauderte, grub ihre eisigen Hände tiefer in die Jackentaschen. Immer war ihr kalt, egal, wie dick sie sich anzog!
Mutig stapfte sie weiter. Ein Donnergrollen hob an, wurde heftiger. Sie blieb stehen, ihr Blick tastete die Berge ab. Am Loser schien es ruhig, bei der Trisselwand, die den Ausseer See vom Grundlsee trennt, dort, wo das Revier des toten Jägers lag, aber staubte der Schnee nur so – also doch eine Lawine. Vielleicht sollte sie besser umdrehen. Aber sie musste etwas tun! Irgendeine Spur finden, vielleicht mit anderen Mitteln als die Polizei. Etwas erspüren, das nicht mit offensichtlichen Beweismitteln und Zeugenaussagen zu tun hatte. Sie war sich sicher, dass Ereignisse wie ein Mord Spuren in der Atmosphäre hinterließen. Starke Gefühle wie die Angst des Mordopfers oder die Emotionen des Mörders lösten Schwingungen aus, die in der Luft spürbar blieben. Für jene, die auf so etwas achteten. Schon einmal hatte sie so etwas erlebt, als der Journalist in ihrem Teesalon gestorben war. Noch tagelang hatte sie gemeint, die dunklen Vibes zu fühlen …
Also weiter! Sie wartete ab, bis es wieder ruhig war. Für einen Moment zeigte sich die Sonne, schickte ihr einen vorwitzigen Strahl. Berenike hielt ihr Gesicht in die plötzliche Wärme. Ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war, war die Sonne wieder weg. Berenike passierte hüfthohe Schneewächten, die unberührt am Rand des Weges lagen. Ein kleiner Baum zeichnete mit seinen nackten Ästen Muster in den Himmel …
Berenike rutschte voran. Der Weg schlängelte sich am Wald entlang, der allmählich in die felsigen Ausläufer des Toten Gebirges überging. Hier war kaum jemand unterwegs. Die Fußspuren wurden immer weniger. Der Wind hatte welkes Laub in die Vertiefungen geweht. Zwei Männer in jagdgrüner Kleidung kamen ihr entgegen und blieben stehen. Sie beobachteten die Bergwände gegenüber durch Ferngläser. Für Berufsjäger wirkten sie zu entspannt, zu locker. Grüßend passierte Berenike die beiden, die nur unwillig zur Seite traten. »Siehst die Gämsen«, hörte Berenike den einen sagen, das Echo trug hier weit.
Der Weg verengte sich noch mehr. Etwas knirschte, und bevor Berenike noch realisiert hatte, was geschah, kam eine üppige Schneelast herabgerauscht. Sie sprang, so schnell sie konnte, zur Seite. Einige nasse Patzen trafen sie hart im Nacken, Feuchtigkeit rann in den Kragen. Sie schüttelte sich. Noch einmal Glück gehabt! Vor ihr war der Weg fast gänzlich verschüttet. Der Trampelpfad war kaum mehr zu erkennen.
Wieder überlegte sie, umzudrehen. Es nutzte nichts, wenn sie ihr Leben aufs Spiel setzte. Doch etwas irritierte sie. Etwas Rotes, das zuvor nicht hier gewesen war. Es leuchtete unter den herab gekommenen Schnee- und Geröllmassen auf. Sie sah genauer hin, buddelte mit einem Stiefel den Schnee zur Seite. Da, ein rotes Seil – oder – nein. Sie grub mit beiden Händen weiter, arbeitete keuchend schneller. Was da auftauchte, war nichts anderes als ein Katzenhalsband. Eines von der Farbe, wie es Spade trug, nicht aber Dr. Watson, der besaß ein blaues. Und – noch etwas. Sie buddelte, kam ins Schwitzen. Ein Notizbuch, schwarz, Größe A5. Ziemlich
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