Naschkatze
in dem sie gewühlt
hat, um ihre Brieftasche zu suchen. »Was?« Wie seltsam sie mich anschaut …
»Da gibt’s jemand anderen!«, jammere ich. »Deshalb willst du nie mehr zu Chaz zurückkehren! Weil du jemand anderen kennengelernt hast!«
Shari hört auf, ihre Brieftasche zu suchen, und starrt mich an. »O Lizzie, ich...«
Sogar im schwachen Licht des Winternachmittags, das durch die nicht allzu sauberen Fensterscheiben des Village Tea House hereindringt, sehe ich die Röte, die langsam in Sharis Wangen kriecht.
»Oh, du liebst ihn!«, stöhne ich. »Ach, mein Gott, das glaube ich nicht! Schläfst du auch mit ihm? Unfassbar – du schläfst mit jemandem, den du noch gar nicht richtig kennst! Okay, wer ist es? Spuck’s aus! Jetzt will ich alle Einzelheiten hören!«
»Nein, Lizzie…« Unbehaglich rutscht sie auf ihrem Stuhl umher. »Ich muss wieder ins Büro.«
»Da hast du ihn kennengelernt, nicht wahr? Bei der Arbeit? Von einem Kollegen hast du nie erzählt. Ich dachte, da wären nur Frauen. Was ist er? Repariert er das Kopiergerät, oder was?«
»Lizzie...« Jetzt sind ihre Wangen nicht mehr gerötet, sondern blass. »Dass es so läuft, wollte ich nicht.«
»Was denn?« Ich rühre in meiner Tasse und schiebe den Tapioka-Klumpen umher. Dieses Zeug werde ich auf keinen Fall essen. Leere Kohlehydrate... Moment mal, hat Tapioka überhaupt Kohlehydrate? Was ist das eigentlich? Ein Getreide? Gelatine? Oder was? »Komm schon, du bist erst zehn Minuten zu spät dran. Wenn’s fünf Minuten mehr werden, wird sich niemand aufregen.«
»Doch …«
»Gib einfach nur zu, dass ich recht habe. Da gibt’s jemand anderen. Sag’s mir endlich! Solange du’s nicht zugibst, muss ich glauben, du liebst Chaz immer noch.«
Ihre Lippen bilden einen schmalen Strich, der Strohhalm spießt den Tapioka auf. »Also gut.« Über der Panflötenmusik, die aus dem Lautsprecher in der Ecke der Teestube dringt, kann ich Sharis leise Stimme kaum hören. »Da gibt’s jemanden.«
»Wie, bitte? Ich habe dich nicht verstanden. Würdest du das wiederholen? Etwas lauter?«
»Da gibt es jemanden.« Mit schmalen Augen schaut sie mich an. »Ich liebe jemand anderen. Bist du jetzt endlich zufrieden?«
»Wer ist es?«
»Darüber will ich nicht reden.« Sie holt ihre Brieftasche hervor und nimmt einen Zehn-Dollar-Schein heraus. »Nicht jetzt.«
»Was?« Während sie aufsteht und ihren Mantel anzieht, packe ich meinen. »Willst du deiner besten Freundin nicht von dem Kerl erzählen, für den du deinen langjährigen Freund aufgibst? Nicht jetzt? Welcher Zeitpunkt würde sich denn besser eignen?«
»Nicht jetzt«, wiederholt sie und bahnt sich einen Weg zwischen den Kissen, auf denen die anderen Teetrinker sitzen. »Nicht jetzt – weil ich wieder arbeiten muss.«
»Dann erzähl’s mir unterwegs, ich begleite dich.«
Wir erreichen die Tür und treten in die kalte Winterluft hinaus. Auf der Bleecker Street poltert ein Sattelschlepper vorbei, gefolgt von mehreren Taxis. Der Gehsteig wimmelt von Leuten, die einkaufen gehen und die Freitagssonderangebote
nutzen wollen. Irgendwo in dieser Stadt wird Luke von seinem Vater durch die Museen gezerrt, und Mrs. de Villiers genießt ein heimliches Rendezvous mit ihrem Liebhaber.
Und sie ist offenbar nicht die Einzige, die sich bei heimlichen Rendezvous amüsiert.
Auf dem Weg zum Büro ist Shari ungewöhnlich schweigsam. Den Kopf gesenkt, betrachtet sie ihre Füße. In New York muss man das sogar tun, weil die meisten Gehsteige voller Risse und Löcher sind.
Anscheinend regt sie sich auf. Und ich rege mich auf, weil sie sich aufregt.
»Hör mal, Share...«, beginne ich und trotte neben ihr her. Nun beschleunigt sie ihre Schritte. Mit tausend Meilen pro Stunde läuft sie weiter. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht ärgern. Ehrlich nicht. Ich freue mich für dich. Wenn du glücklich bist, bin ich’s auch.«
Da bleibt sie so abrupt stehen, dass ich mit ihr zusammenstoße.
»Ja, ich bin glücklich«, bestätigt sie und schaut auf mich herab. Sie steht auf der Gehsteigkante, und ich bin im Rinnstein gelandet. »Noch nie war ich so glücklich. Zum ersten Mal glaube ich, dass mein Leben einen Sinn hat – dass es etwas bedeutet, was ich tue. Ich helfe Menschen, die mich brauchen. Und das ist ein wunderbares Gefühl.«
»Großartig. Lässt du mich wieder auf den Gehsteig? Sonst werde ich womöglich noch überfahren.«
Shari umfasst meinen Arm und zieht mich zu sich hinauf. »Und du hast recht.
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