Natascha
Natascha in den nahe gelegenen Wald. Aus Knüppeln und mit Gräsern baute sie ein Kreuz, schleppte Steine zusammen und häufte sie auf, als sei ein Grab unter ihnen. Mit einem Küchenmesser, das sie gestohlen hatte, schnitzte sie in den runden Stamm den Namen ›Fedja‹. Dann steckte sie das Kreuz in den Steinhaufen, legte ihren zerrissenen Rock über die Steine und setzte sich davor, mit gefalteten Händen.
»Fedja Iwanowitsch«, sagte sie leise. Fest war ihre Stimme, nicht schwankend wie ein Schilfrohr im Wind. Und klar war sie, als spräche sie wirklich mit dem Leutnant Astachow, ihrem lieben Mann. »Nun bist du nicht mehr da … und auch dein Kind ist nicht mehr da … Nur Rußland ist noch, und für Rußland sind sie gestorben, du und das Kind. Kein Trost ist das, aber es ist gut, wenn man weiß, was man tun muß. Leb wohl, Fedja Iwanowitsch … ich habe ein Kreuz für dich gebaut, obwohl wir ihn nicht kennen, diesen Gott unserer Väter und Mütter. Über deinen Namen werden die Blätter fallen, und der Schnee wird eine Haube auf dir bilden, und die Sonne wird in deinen Namen Schatten werfen und die Winde werden dich streicheln. Ganz Rußland ist um dich, Fedjascha … der Wald, die Steppe, der Fluß und der Himmel …«
Sie beugte sich über den Steinhaufen und legte ihren Kopf auf den zerrissenen Rock. Mit beiden Händen streichelte sie den eingeschnittenen Namen Fedja, und es war ihr, als bekäme er Leben unter ihren Fingern –
Am nächsten Morgen wurde Natascha Astachowa in der Küche vermißt. Keiner hatte sie weggehen sehen.
»Weibsbilder!« sagte der Oberzahlmeister, dem das Hilfspersonal unterstand. »Aber weit kann sie nicht sein. Überall in Rußland sitzen wir. Man wird sie irgendwo aufgreifen und durch die Mangel ziehen. Diese verdammten russischen Weiber …!«
Die Berühmtheit Lukas in der Gefangenensammelstelle VI bei Bobruisk war nicht nur groß, sondern lebensrettend. Während Tausende von Gefangenen weiter nach Westen marschieren mußten und auf dem Transport verhungerten, weil man eben nicht mehr in der Lage war, die plötzlichen Menschenmassen zu ernähren, blieb Luka im Lager. Nicht trennen konnte man sich von ihm. Wie ein Arbeitselefant war er, schleppte Lasten, ersetzte Wagenheber, schob festgefahrene Kolonnen aus dem Dreck oder zimmerte Blockhütten für die Wachmannschaften, die nie ein Wintersturm umblasen würde.
Ab und zu wurde er herumgezeigt wie ein seltenes Tier. Nicht eine Besichtigungskommission war da, die nicht auf Luka traf und ihn bestaunte. Seine Körpergröße, seine Stärke, sein urwaldähnliches Gesicht und seine offensichtliche Idiotie. Eine ganz große Vorstellung wurde es, wenn Luka einer Besichtigungsgruppe – zuletzt waren es fünf Generale – seinen Appetit vorzeigen mußte. Er gab dann das Schauspiel eines fressenden Ungeheuers, verschlang einen Kessel Suppe von fünf Liter Inhalt, fraß zwei Brote hinterdrein und fragte dann mit breitem Lächeln: »Gibt's heute auch Fleisch?!«
»Ein Naturereignis!« sagte ein General und starrte Luka an. »Ein Beweis des Führerwortes, daß in Rußland Untermenschen leben!«
Als der erste Schnee fiel, legte man einige Lager zusammen und bildete Holzfällergruppen, um Winterunterkünfte zu bauen. Mit zweihundert anderen Gefangenen zog Luka in die Wälder und schlug die Stämme um, als seien sie aus hohlem Bambus.
An einem dieser Tage führte man eine Kolonne gebrechlicher Gefangener an dem Kahlschlag vorüber. Sie sollten zu einer Bahnstation marschieren, wo ein Güterzug sie nach Deutschland brachte. Eine Elendskolonne war's, mehr Sterbende als Atmende. Sich aneinander stützend, schlurften sie durch den Schnee, bewacht von einigen Soldaten. Plötzlich erhob sich aus der Schlange der Torkelnden eine zittrige Stimme und flatterte hinüber zu den Holzfällern, die auf den Stämmen saßen und dünnen, heißen Tee, fast war's nur heißes Wasser, tranken.
»Luka!« rief die kleine Stimme. »Luka, der Idiot! Gott grüß dich, Brüderchen!«
Luka setzte seinen Becher ab. »Wer ist's?« brüllte er.
»Ich bin's, Gennadi Wassilijewitsch Nikitin!« Der Alte schwankte aus der Reihe und winkte mit beiden Armen. »Grüßen soll ich dich!« wimmerte er. »Von Natascha, dem Täubchen …«
Durch Luka lief ein Zucken. Er verschüttete den heißen Tee, er lief ihm brennend über die Hände, aber er merkte es nicht. Er heulte nur auf wie ein getroffener Wolf, warf den Becher in den Schnee und sprang mit riesigen Sätzen auf die
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