Nathanael
treten.
Kaum war sie seiner Aufforderung gefolgt, bemerkte sie den riesigen Schatten eines Flügels an der halbrunden Betondecke. Aufgescheuchte Fledermäuse suchten das Weite. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Schrei. Sie spürte, wie sich jeder Muskel in Nathanaels Körper spannte.
Elegant und lautlos wie ein Nachtfalter landete der Gefallene mit ausgebreiteten Flügeln auf dem ausgedienten Bahnsteig. Tessa wich entsetzt zurück. Sie presste den Rücken an die Wand, als sie in ihm den erkannte, der sie zum Sprung verleitet hatte. Unter seinem bohrenden Blick breitete sich die Angst wie lähmendes Gift in ihrem Körper aus.
Nathanael stellte sich ihm mit erhobenem Schwert entgegen. Auch Leviathan zog sein Schwert, das nicht silbern, sondern wie geschliffener Obsidian schimmerte. Die beiden Gegner maßen sich mit Blicken. Tessa fröstelte, als sie das tödliche Glitzern in den Augen der beiden sah.
«Fahr zur Hölle, Leviathan. Oder soll ich besser Arthur Levi sagen?», hallte Nathanaels Stimme klar und laut durch den Tunnel.
Das eisige Grinsen des Gefallenen ließ Tessa erstarren. Sie wollte die Augen schließen, aber es gelang ihr nicht.
«Hat aber lange gedauert, bis ihr draufgekommen seid. Gib auf, Blutengel. Ihr Schicksal ist längst besiegelt.» Leviathan deutete auf Tessa und trat einen Schritt auf Nathanael zu.
Im selben Augenblick teilte Nathanaels Schwert die Luft und hätte Leviathans Schulter getroffen, wenn der Gefallene nicht den Schlag abgefangen hätte.
Die Klingen schlugen klirrend gegeneinander, Funken stoben bei jeder Berührung. Tessa fieberte mit jedem Hieb für Nathanael. Sie hasste es untätig zusehen zu müssen, es machte sie verrückt. Wo versteckte sich eigentlich Rogers?
Sie sah zum Tunnel hin, konnte aber in der Dunkelheit keinen Umriss erkennen. Hatte er sie hierher gelockt? Sie tastete sich langsam an der Wand entlang in Richtung Tunnel, um dort nach ihm Ausschau zu halten, ohne jedoch das Kampfgeschehen aus den Augen zu verlieren.
Leviathans Flügel schmiegten sich an seinen Rücken, was ihn wendiger werden ließ. Tessa bewunderte Nathanaels Geschmeidigkeit, mit der er jeden Schlag des Gefallenen parierte. Als er sich mit einem mächtigen Satz über den Kopf des Rivalen hinwegkatapultierte und die Klinge auf dessen Flügel niedersauste, hielt sie den Atem an.
Doch wieder gelang es dem Gefallenen auszuweichen. Er fuhr einzeln die Schwingen aus, um mit ihnen nach Nathanael zu schlagen. Das tiefe Grollen aus der Kehle Leviathans vibrierte in ihren Knochen.
Nathanael reagierte sofort auf die Attacken seines Gegners, wich aus und streifte mit dem Schwert eine Flügelspitze. Schwarze Federn stoben durch die Luft.
Der Gefallene schrie auf, in seinen Augen loderte Hass. Nathanael drängte ihn durch schnellere Schläge immer weiter zurück. Aber Leviathan hielt dagegen. Seine Schwertführung war so präzise, dass Nathanael sich nicht einen Augenblick der Unkonzentriertheit leisten konnte.
Tessa war den Kerzen gefolgt und hatte den Eingang zum Gleistunnel erreicht. Sie beugte sich vor und spähte vergeblich ins Dunkel. Ohne Licht würde sie ihn nie finden. Sie drehte sich um und stand unerwartet Rogers gegenüber, der nur eine Armlänge von ihr entfernt auf dem schmalen Stück Beton wartete, das einmal ein Bahnsteig war.
Sein eisiger Blick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Rogers hatte ihr den Rückweg abgeschnitten. Wenn sie zurückwollte, musste sie an ihm vorbei.
Mit dem Alten wirst du schon fertig. Du musst nur schneller sein als er und ihn austricksen.
Aber wie?
Rogers lachte gehässig. Sein hageres Gesicht mit den tief liegenden Augen glich im fahlen Licht einem Totenschädel. Langsam trat er auf sie zu.
«Dein Blutengel kämpft vergeblich um deine Seele. Sie gehört bereits uns.»
«Bleiben Sie, wo Sie sind!», rief Tessa, streckte dabei die Arme abwehrend nach vorn und warf einen Blick zu Nathanael, der den Gefallenen zurückdrängte. Er hatte ihr Vordringen und Rogers anscheinend noch nicht bemerkt. Und das war auch gut so, denn nichts durfte ihn ablenken.
«Du hast doch nach mir gesucht. Hier bin ich», sagte Rogers und grinste hämisch. Tessa antwortete nicht, sondern spielte stattdessen im Geist alle möglichen Fluchtvarianten durch. Sie kam nur zu dem einen Ergebnis: Sie musste Rogers irgendwie aus dem Weg räumen, um an ihm vorbeizukommen.
Leider war die Plattform, auf der sie stand, sehr schmal, sodass ein Ausweichen nur auf die Gleise möglich
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