Nathanael
Boden und die Rauchwolken darüber erinnerten noch an das Geschehen.
Nathanaels Brandwunde schmerzte bei jeder Bewegung. Er stöhnte, als er den Arm bewegte. Die Haut war gespannt, als wäre sie zu eng. Langsam erhob er sich und zog Tessa mit hoch.
Sie sank an seine Brust und schlang die Arme um ihn. Sanft strich er ihr über den Kopf. Er hätte sich nie verziehen, wenn ihr etwas geschehen wäre.
«Das war knapp. Ich hatte Rogers unterschätzt», flüsterte sie und berichtete, was ihr widerfahren war.
«Es ist vorbei, denk nicht mehr darüber nach. Rogers ist tot.»
«Ja, zum Glück.»
«Jetzt weißt du, wie ein Leben an meiner Seite ist. Alle Facetten der Gewalt und des Todes würdest du kennenlernen.»
Sie nickte. «Ich weiß, aber wieder haben wir es gemeinsam geschafft.»
Tessa sah zu ihm auf. Ihr liebevoller Blick drang tief in sein Herz und spülte die verdrängte Sehnsucht nach ihr wieder an die Oberfläche. Jetzt hatte sie der Gefahr entgehen können, doch die Zukunft hielt noch mehr davon bereit.
Heute lautete sein Auftrag, Leviathan und seine Dämonen zu vernichten. Was würde morgen folgen? Gegen eine ganze Horde abtrünniger Engel vorzugehen? Ein Auftrag würde dem nächsten folgen und ihn in puncto Gefährlichkeit toppen.
«Komm.»
Er nahm Tessas Ellbogen und führte sie die Treppe hinauf. Draußen empfing sie der gewohnte Großstadtlärm, den die eiserne Tür ausgeschlossen hatte, und ließ das eben Erlebte wie eine Illusion erscheinen.
Unvermutet blieb sie stehen.
«Mein Gott, du bist ja verletzt.» Tessa zeigte auf die Brandwunde an seinem linken Arm. «Du musst zu einem Arzt. Das sieht schlimm aus.»
Nathanael blickte auf seinen Arm. Rings um die Wunde hatten sich Blasen gebildet, aber er schüttelte nur den Kopf. «Nein, ich brauche keinen Arzt. Meine Wunden heilen viel schneller als bei einem Menschen.»
Sie ignorierte ihn. «Habt ihr im Ghetto was für solche Notfälle? Salben, Tabletten, Sprays?»
«Cynthia hat einen Notkoffer deponiert», gab er zu.
«Dann lass uns ins Ghetto fahren und deine Wunde versorgen, wenn du schon zu keinem Arzt willst.» Sie drehte sich um und stapfte weiter.
«Ich dachte, du wolltest erst mit deinem Bruder sprechen», wandte er ein.
Sie winkte ab. «Das kann ich auch noch später. Das da ist wichtiger.»
24.
Tessa war froh, als die Wagentür zufiel. Sie spürte ihren dumpfen, schweren Herzschlag noch immer im Hals. Als hätte sie die Review-Taste gedrückt, spulte sich das Geschehen noch einmal vor ihren Augen ab: der Gefallene, Rogers, das Feuer und der Abgrund zu ihren Füßen.
Wenn es nicht so bedrückend real gewesen wäre, hätte alles einem Horrorfilm entsprungen sein können. Sie hatte Nathanaels Kampf beobachtet und geglaubt, jede Attacke gegen ihn körperlich zu spüren. Seltsam, wie eng sie miteinander verbunden waren, trotz der kurzen Zeit, die sie sich erst kannten.
Sie startete den Wagen und unterdrückte ein Stöhnen, als sie den Ellbogen bewegte, der stark geschwollen war.
Sie war froh, dass sie jetzt erst einmal ins Engelsghetto fuhren, denn in Wahrheit fürchtete sie sich immer mehr vor einer Aussprache mit Ernest und war froh, ein wenig Aufschub zu erhalten. Dennoch quälte sie die Ungewissheit.
Als sie an einer Ampel hielten, sah sie gedankenverloren aus dem Fenster. Nathanael saß neben ihr auf dem Beifahrersitz und hatte die Augen geschlossen. Einige Touristen mit aufgeschlagenen Stadtplänen in der Hand drängten sich vor einem Kiosk und diskutierten. Ein gewohnter Anblick, dessen Normalität ihr guttat. Die Ampel schaltete auf Grün.
Der Pulk setzte sich in Bewegung und gab den Blick auf einen Mann frei, der eine Zeitung kaufte. Sie hätte den eleganten, beigefarbenen Mantel unter Tausenden wiedererkannt. Steven!
Tessa erstarrte. Halluzinierte sie? Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war der Mann verschwunden. Spielten ihre Nerven wieder verrückt wie damals?
Nein, das war keine Einbildung gewesen, sie hatte Steven gesehen.
«Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen», hörte sie Nathanaels dunkle Stimme und schrak aus ihren Gedanken.
Sie schüttelte den Kopf. «Steven ist zurückgekehrt. Ich habe ihn eben gesehen.»
«Ich dachte, die Concorde fliegt nicht mehr, oder wie ist der so schnell zurückgekommen?»
Nathanael hatte recht, es war kaum möglich, innerhalb von weniger als vierundzwanzig Stunden einen Flug zu buchen und den Atlantik zu überqueren. Einen Privatjet
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