Nathanael
war noch warm und vibrierte. Das Öffnen des Höllentors lag nicht lange zurück. An seinen Händen klebte Dämonenstaub. Langsam zerrieb er ihn zwischen den Fingerspitzen, um in die Erinnerung der Höllenkreatur einzutauchen. Als Bilder in ihm aufstiegen, schloss Nathanael die Augen.
In der Dämmerung waren Leviathan und der Dämon durch das Höllentor getreten. Nathanael versuchte vergeblich, aus den bruchstückhaften Erinnerungen mehr über das Vorhaben des Gefallenen zu erfahren. Sicher ahnte Leviathan, dass er ihm auf den Fersen war und nicht aufgeben würde.
Es war nur eine verwaschene Momentaufnahme, die vor Nathanaels Augen flackerte, eine Szene durch die Augen des Dämons.
Leviathan verbarg sich in einem Hauseingang, gegenüber einer Kirche, vor dessen Tor ein Priester stand, der gerade abschloss. Als der Geistliche einen ängstlichen Blick über die Schulter zurückwarf, wusste Nathanael, wen er vor sich hatte: Macombe.
Wie sehr wünschte er sich für Tessa, dass er Unrecht hatte und ihr Bruder unschuldig war. Er musste Macombe zur Rede stellen. Am besten sofort.
Nathanael drehte sich um und verließ den Hof.
Als er durch den Rundbogen trat, stand Michael unvermutet vor ihm. Die weißen Schwingen leuchteten, als wären sie mit winzigen Glühbirnen bestückt. Das Auftauchen seines Vaters konnte nichts Gutes bedeuten. Das bestätigte Michaels Miene, die noch eine Spur eisiger war als bei ihrer letzten Begegnung.
Er hielt das Flammenschwert in einer Hand. «Du kommst schon wieder zu spät, mein Sohn », sagte er mit trügerisch sanfter Stimme. «Der Dämon ist längst ausgeflogen.»
Nathanael hasste es, wenn Michael das Wort Sohn betonte. Die Augen des Erzengels glühten vor Zorn, aber Nathanael hatte sich noch nie davon einschüchtern lassen und würde es auch heute nicht tun. Er reckte das Kinn in die Höhe und hielt dem stechenden Blick seines Gegenübers stand.
«Das weiß ich selbst.»
«Es wäre deine Pflicht gewesen, Leviathan durchs Höllentor zu folgen, anstatt dich von den Augen einer Frau ablenken zu lassen. Mit jedem neuen Tag erschafft der Gefallene einen weiteren Dämon. Wie viel Zeit muss noch vergehen, damit du begreifst?»
Zur Hölle, woher wusste sein Vater schon wieder von der Sache im U-Bahn-Schacht?
«Sollte ich sie allein zurücklassen? Du selbst hast mich gelehrt, dass es meine Pflicht ist, die Menschen und ihre Welt vor Luzifer und seinem Gefolge zu schützen.»
«Leg dir meine Worte nicht so aus, wie du sie brauchst. Mein Auftrag hat höchste Priorität. Oder willst du das infrage stellen? Manchmal ist es weiser, einen zu opfern, um andere zu retten.»
Die steile Falte auf der Stirn seines Vaters verriet, wie sehr er Nathanaels Verhalten missbilligte. So hatte er ihn immer angesehen, wenn er sich seinem Willen nicht beugen wollte. Aber Tessa opfern? Niemals, gleichgültig wofür.
«Sie ist doch keine Figur in einem Schachspiel! Das kannst du nicht verlangen …», stieß Nathanael hervor.
Michaels Brauen schossen nach oben und sein Mund spitzte sich ablehnend. «Was bedeutet schon diese irdische Liebe gegen die allmächtige unseres Schöpfers? Außerdem ist diese Frau nur ein Mensch.»
Er verachtete Michael für seine Kaltherzigkeit, die auch er immer zu spüren bekommen hatte. «Hast du vergessen, dass auch ich zur Hälfte einer bin?»
«Das habe ich nicht vergessen. Aber du trägst heiliges Blut in dir. Mein Blut!»
«Auf dass ich lieber verzichtet hätte, hätte ich die Wahl gehabt.»
Täuschte er sich oder zuckte Michaels Lid? Verbargen sich hinter der Fassade von Erhabenheit und Kälte Gefühle? Nein, das konnte er nicht glauben.
«Ich habe sie gerettet, weil ich sie liebe. Aber was weißt du schon von Liebe. Nicht einmal meine Mutter hast du geliebt. Als sie im Sterben lag, hast du sie nicht ein einziges Mal besucht. War sie auch ein Opfer?»
«Sie war kein Opfer, sondern die Auserwählte.»
«Eine Auserwählte, die gut genug gewesen ist, dich dir hinzugeben und einen Sohn zu gebären, aber nicht gut genug, um geliebt zu werden.»
«Genug!», donnerte Michael und erhob das Schwert. «Es lag nicht in meiner Macht, Gina und deiner Mutter zu helfen.»
«Du hast sie nicht gerettet, weil sie für dich unwichtig waren.» Alles, was Nathanael Jahre lang auf der Seele gelastet hatte, sprudelte jetzt heraus. «Du kannst nicht lieben, weder sie noch mich oder jemand anderen außer deinem Gott!»
Michaels Nasenflügel blähten sich vor unterdrückter Wut. Zum
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