Nathanael
los mit ihr?
Was regst du dich auf, war doch nur ein Kuss, hätte Hazel gesagt. Stimmt, es war nur ein Kuss. Aber es wäre mehr gewesen, wenn er sich nicht zurückgezogen hätte.
Großer Gott, niemand durfte ihr ansehen, was geschehen war. Als die Türen des Aufzugs sich in der gewünschten Etage öffneten, stürzte sie hinaus in Richtung Toiletten, um ihr erhitztes Gesicht zu kühlen.
Nachdem sie sich eiskaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, fühlte sie sich besser. Aber als sie in den Spiegel über den Waschbecken sah, besaßen ihre Augen einen seltsamen Glanz, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte.
Sie gab sich noch ein paar Minuten, aber ewig konnte sie sich hier nicht verstecken. Wahrscheinlich würde sich Steven ohnehin schon wundern, wohin sie verschwunden war. Sie atmete noch einmal tief ein und aus, zog ihre Kleidung glatt und verließ die Toilette mit entschlossenem Schritt.
Bevor sie den Saal betrat, meldete sich ihr schlechtes Gewissen zurück. Da drinnen befand sich der Mann, den sie heiraten wollte. Wie konnte es sein, dass sie diesen dreisten Fremden begehrte?
Wenn du jetzt den Saal betrittst, hast du ihn vergessen. Es war nur ein Kuss, mehr nicht , versuchte sie sich einzureden. Entschlossen drückte sie die Klinke hinunter.
Die Luft im Saal war noch stickiger, das Stimmengewirr lauter geworden. In der Zwischenzeit waren weitere Gäste eingetroffen, die vom Buffet mit einem gefüllten Teller zurückkehrten und vergeblich nach einem freien Tisch suchten.
Steven stand zusammen mit einer Handvoll Männern in dunklen Nadelstreifenanzügen in der Nähe der Tür und unterhielt sich angeregt. Er hatte sie noch nicht bemerkt. Tessa nutzte den Augenblick, um ihn zu betrachten. Du willst ihn nur mit dem anderen vergleichen , meldete sich eine spöttische Stimme in ihrem Hinterkopf, die sie geflissentlich ignorierte.
Steven trug einen nachtblauen Armani-Anzug, der seine schlanke Figur betonte. Sein kurz geschnittenes, blondes Haar besaß an den Schläfen bereits feine Silberfäden, was seine Attraktivität jedoch keinesfalls minderte.
Dennoch musste sie sich eingestehen, dass er sie nicht auf dieselbe Weise faszinierte, wie der Fremde es tat. Es fehlte dieses Charisma, das sie in den Bann zog. Bei Steven war der Wunsch nie übermächtig gewesen, ihn überall zu spüren.
Sie verwarf den Gedanken sofort. Es mochte ja sein, dass die Verwegenheit und Sinnlichkeit des Fremden ihr für einen Moment den Kopf verdreht hatte. Ein kurzes Aufflammen der Leidenschaft, nicht mehr. Das, was sie wollte – Beständigkeit, Sicherheit, gemeinsame Werte –, würde sie sicher nicht bei ihm finden. Ihre Zukunft war hier. Bei Steven.
Sie trat zu ihm hinüber und hakte sich beim ihm ein. Er drehte sich zu ihr und lächelte sie kurz an, bevor er sich wieder seinem Gesprächspartner zuwandte.
Tessa spürte, wie sich ein unangenehmes Pochen in ihren Schläfen ausbreitete. Es war ein langer Tag gewesen und am liebsten wäre sie nach Hause gefahren. Aber sie wollte Steven nicht allein hier lassen. Dass sie möglicherweise dem Fremden erneut begegnen würde, wenn sie jetzt zum Taxistand lief, spielte bei ihrer Entscheidung keine Rolle. Nicht die geringste.
Die Dinnerparty zog sich fast bis Mitternacht hin. Als endlich die letzten Gäste den Saal verlassen hatten, war sie todmüde und überreizt. Dankbar nahm sie Stevens Angebot an, sie in seinem Wagen nach Hause fahren zu lassen. Als sie in die weichen Polster des Ferraris sank, waren ihre Kopfschmerzen fast unerträglich geworden.
Dennoch konnte sie sich nicht des unangenehmen Gefühls erwehren, vor etwas davongelaufen zu sein.
4.
Tessa warf sich im Bett hin und her. Obwohl sie völlig erschöpft war, konnte sie einfach nicht einschlafen. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu dem Fremden und dem Kuss im Aufzug zurück.
Sie musste ihn als flüchtige Begegnung abhaken und sich schnellstens aus dem Kopf schlagen. Leider war das gar nicht so leicht, denn er hatte ihre Sinne aufgewühlt. Rein sexuelle Anziehungskraft, mehr nicht. Sie war nicht dazu bereit, sich auf ein Abenteuer einzulassen und ihre Beziehung zu Steven aufs Spiel zu setzen.
Wenn sie sich doch nur in diesem Moment Hazel hätte anvertrauen können.
Hazel! Die hatte sie doch glatt vergessen. Die Séance war schon lange vorbei, aber kein Anruf, keine SMS war eingegangen. Das kannte sie gar nicht von ihrer Freundin.
Tessa schaltete die Nachttischlampe ein und griff nach dem Telefon. Es war zwar schon
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