Nathanael
außer ihr noch daran teilgenommen? Oder war sie etwa doch nicht hingegangen?
Wollte sie mehr über diesen schicksalhaften Abend erfahren, musste sie zur Wohnung ihrer Freundin fahren, zu der sie einen Schlüssel besaß.
«Für Notfälle», hatte Hazel damals gesagt und ihr den Schlüssel in die Hand gedrückt.
Seit Jahren ruhte er in Tessas Tresor. Ihn zu benutzen war, wie in die Intimsphäre der Freundin einzudringen. Doch Hazel war tot, und wenn sie Beweise für einen Mord sammeln wollte, würde sie nicht darum herumkommen.
Es klingelte an der Haustür. Wieder zuckte sie zusammen. Sie benahm sich wie ein schreckhafter Hase. Nathanael konnte es nicht sein, denn er kannte ihre Adresse nicht. Oder war er ihr heimlich gefolgt?
Tessa spähte durch den Spion und atmete auf, als sie ihren Stiefbruder vor der Tür stehen sah. Lächelnd öffnete sie die Wohnungstür.
«Ernest, ich bin so froh, dich zu sehen», sagte sie und fiel ihm um den Hals. Seine vertraute Nähe tat unglaublich gut.
Lachend befreite er sich aus der Umarmung. Seine elfenbeinfarbenen Zähne glänzten wie Perlen im kaffeebraunen Gesicht.
«Hey, so stürmisch hast du mich noch nie begrüßt. Ist was passiert?»
«Komm rein, dann erzähle ich dir alles.»
Tessa warf einen Blick über seine Schulter. Noch immer fühlte sie sich beobachtet. Sie suchte jeden Winkel des Hausflures ab. Ob der Kerl mit den rot glühenden Augen ihr gefolgt war? Bei dieser Vorstellung kribbelte es unangenehm in ihrem Bauch. Aber alles war wie immer.
Sie schob ihren Stiefbruder in die Wohnung und schloss hastig hinter ihm die Tür.
Ernest trug wie immer das gleiche Outfit, das aus einer schwarzen Hose und einem ebenso schwarzen Pullover bestand. Nur der weiße Kragen seines Hemdes hellte das Bild auf. Auf den ersten Blick hätte man ihn fast mit Martin Luther King verwechseln können, nur dass Ernest keinen Bart trug.
Er folgte ihr ins Wohnzimmer und machte es sich auf der Couch gemütlich. Jede seiner Bewegungen war bedächtig und unaufdringlich. Seine Aura strahlte Ruhe aus und vermittelte Geborgenheit. Er konnte stundenlang zuhören, ohne desinteressiert zu wirken. Genau das, was Tessa jetzt brauchte.
Die Beine lässig übereinandergeschlagen sah er sie erwartungsvoll aus seinen schwarzen Augen an. Mit Steven konnte sie nicht so zusammensitzen und zwanglos reden. Er stand stetig unter Strom, Termine hier, Termine dort, immer von einem zum anderen hetzend. Ihr erging es genauso. Sie lebten für ihren Job. Abends fiel sie todmüde ins Bett. Da blieb keine Zeit für ein Gespräch über ihre Beziehung oder Sex. Und sie hatte es bisher auch nie vermisst.
Wenn sie mit Ernest zusammen war, verpuffte jeder Stress durch seine stoische Ruhe. So war es schon immer gewesen. Als er und sein Dad damals bei ihr und ihrer Mom eingezogen waren, nahm sein sanftmütiges Wesen sie ein. Später war sie sogar ein wenig verliebt in ihn gewesen. Eine Teenagerschwärmerei, die sich schnell wieder legte, als sie begriff, dass Ernest nur für seinen Glauben lebte und eine Frau erst an zweiter Stelle rangierte.
Tessa holte eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser aus der Küche. Ernest trank nie etwas anderes.
Als sie eingoss, zitterten ihre Hände. Er nahm ihr die Flasche ab. «Ich mach das schon.»
Sie setzte sich ihm gegenüber und knetete ihre Finger.
«Wie geht es dir nach Hazels Tod?», fragte er leise und betrachtete sie mit sorgenvoller Miene.
Es hatte keinen Zweck ihn anzulügen. Er kannte sie gut genug, um sie zu durchschauen. «Schlecht. Ich kann und will es noch immer nicht glauben.»
«Alles braucht seine Zeit. Du hast doch nicht etwa Schuldgefühle, weil sie sich das Leben genommen hat?» Ernest trank einen Schluck und sah sie forschend über den Rand des Glases hinweg an.
«Hazel hat sich nicht umgebracht.» Ihre Stimme klang barscher als beabsichtigt. «Hat Steven das behauptet?»
Ernest nickte.
«Er hat mir gesagt, dass du dich wehrst, ihren Freitod zu akzeptieren.»
«Weil es keiner war! Ich habe unglaubliche Dinge beobachtet …» Tessa zögerte nur einen Moment, bis es aus ihr wie ein Sturzbach heraussprudelte. Auch den Vorfall vom Vormittag erwähnte sie. Den Kuss verschwieg sie ihm allerdings.
Ernest hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen.
«Puh.» Er steckte den Finger in seinen Kragen und weitete ihn, als würde er ihm die Luft abschnüren. Dann lehnte er sich zurück. «Das hört sich alles wirklich unglaublich an.»
«Hältst du mich jetzt für
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