Nathanael
bezweifelte, dass er es für eine kirchliche Einrichtung zur Verfügung stellen würde. Er war kein gläubiger Mensch und sah auf die Geistlichen herab, die seiner Meinung nach aus Machthunger Menschen manipulierten. «Angst ist das Mittel zum Zweck. Wer möchte schon seine Seele in der Hölle brennen sehen? Also gehorchen die Menschen den Gesetzen der Kirche», waren seine Worte gewesen. Als Kind war Steven von seinen Eltern dazu gezwungen worden, ein kirchliches Internat zu besuchen. Er hatte es gehasst: die strengen Regeln und Bestrafungen, das ständige Beten und die Priester, die ihre wahren Gefühle hinter einer freundlichen Miene versteckten.
Ernest lächelte sie an. «Vielleicht hast du recht und es geschieht wirklich ein Wunder.»
Sie redeten noch eine Weile über ihren Job, bis Ernest sich verabschiedete.
«Ich muss noch ins Hospiz.» Er warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr und hob die Brauen.
«Mrs Bradshaw?»
Er nickte traurig. Mrs Bradshaw war eine alleinstehende Dame von Mitte achtzig, die sich vor ihrer Krebserkrankung in Ernests Gemeinde sehr engagiert hatte. Jetzt lag sie im Hospiz und wartete auf den Tod. Ernest besuchte sie täglich.
Er küsste Tessa flüchtig auf die Wange, bevor er ihre Wohnung verließ.
Als er gegangen war, blieb sie nachdenklich zurück. Nachdem sie ihm von ihren Begegnungen erzählt hatte, war er seltsam still geworden. Selbst als sie von ihrem Job und dem ganzen Stress gesprochen hatte, hatte er geschwiegen.
Er wirkte geistig abwesend, als wenn ihn etwas beschäftigte. Natürlich konnte es an seinen eigenen Sorgen wegen seiner Gemeinde oder auch an dem bevorstehenden Besuch im Hospiz liegen, aber es schien Tessa dennoch seltsam. An sich war er mit seiner Aufmerksamkeit immer ganz bei der Person, mit der er sprach. So hatte sie ihn noch nie erlebt.
7.
Beweise! Beweise! Das Wort hämmerte die ganze Zeit über in ihrem Kopf, noch lange nach dem Gespräch mit Ernest.
Sie konnte doch nicht nur mit Vermutungen bei der Polizei aufkreuzen, sondern brauchte einen stichhaltigen Beweis. Wie sollte sie denen erklären, etwas Übersinnliches beobachtet zu haben? Keiner würde ihr glauben, genau wie damals.
Sicher existierte irgendwo noch ein Aktenvermerk über die irre Tessa McNaught, die sich verfolgt fühlte. Doch dieses Mal war es etwas anderes. Es waren keine Visionen, sondern harsche Realität. Hazel war gesprungen und auch die anderen.
Das Beste wäre gewesen, sie hätte zum Beweis von dem Rotäugigen ein Foto auf frischer Tat geschossen. Tessa schnaubte leise durch die Nase. Genau, in Panik noch schnell das Handy zücken und ein Foto machen.
Selbst wenn sie das Übersinnliche nicht erwähnte, würde die Polizei ihr vorwerfen, nach dem Vorfall am Vormittag niemanden angezeigt zu haben, gleichgültig, ob sie ihn kannte oder nicht. So ein Mist.
Wenn sie einen Beweis finden könnte, dann nur in Hazels Wohnung. Da die Polizei den Selbstmord der Freundin offiziell bestätigt hatte, war deren Wohnung sicher nicht mehr versiegelt.
Es war weit nach zehn, als Tessa im Innenhof vor Hazels Mietshaus stand. Immer wieder blickte sie sich um, jeder Schatten wirkte bedrohlich. Hof und Straße waren leer gefegt. Wie von Furien gehetzt überquerte sie das Pflaster, bis sie atemlos vor der Haustür stoppte.
Sie war froh, sich für die Turnschuhe mit den weichen Sohlen entschieden zu haben, mit denen sie besser rennen konnte als mit den Pumps, die sie sonst trug.
Die Leuchtreklame erhellte für Sekunden das Pflaster, auf dem noch die aufgetragenen Umrisse von Hazels Leiche erkennbar waren. Dort hatte sie gelegen mit verrenkten Gliedern und weit aufgerissenen Augen. Der Anblick hatte sich in Tessas Hirn gebrannt wie die Schüsse des Überfalls. Bei jeder Gefahr drängten sie sich in ihr Bewusstsein.
Tessa fröstelte und begann zu zittern. Ihr wurde übel, sodass sie schwankte und sich an der Hausmauer abstützen musste. Für einen Moment schloss sie die Augen, als die Bilder vor ihren Augen zu rotieren begannen.
Reiß dich zusammen. Alles ist vorbei, Hazel liegt dort nicht mehr, sondern unter der Erde. Denke jetzt nicht an das Geschehene, sondern daran, wie du Hazels Mörder finden kannst.
Mit aller Kraft kämpfte sie gegen die Schwäche und seufzte erleichtert, als sie sich wieder fing.
Eine Böe streifte sie, obwohl die Äste des Baumes an der Straße sich nicht bewegten. Ängstlich flog ihr Blick über den Hof und zum Garagendach hinüber, doch nichts war zu sehen. Was
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