Nathanael
verrückt? Steven glaubt, ich halluziniere wieder. Wie damals nach dem Überfall. Aber glaube mir, das ist nicht so. Es ist ganz anders.» Sie forschte in seinem Gesicht, wollte wissen, was er dachte. Ernest kaute auf der Unterlippe.
«Ja, ich glaube dir, auch wenn es fantastisch klingt. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir Menschen nicht erklären können. Als Priester glaube ich an Wunder. Gottes Wirken hier unten auf der Erde ist mächtiger, als wir denken. Versprich mir, dass du auf dich achtgibst. Wenn der Kerl dich auf die Straße gestoßen hat, wird er es vielleicht noch einmal versuchen.»
Er lehnte sich vor und legte seine Hand auf ihre. Seine Berührung und seine Worte beendeten ihr Zittern. «Danke, dass du mir glaubst. Ich glaube auch, dass er es wieder versuchen wird.»
Ihre Angst war in diesem Augenblick wieder präsent und ballte sich in ihrem Magen zu einem harten Klumpen zusammen. Diesem Kerl oder besser gesagt diesem Wesen musste das Handwerk gelegt werden. Doch dafür brauchte sie Beweise.
«Hast du deine Vermutungen der Polizei mitgeteilt?»
Tessa schüttelte den Kopf. Die hätten ihr doch nie geglaubt.
«Solltest du aber. Wir können morgen zusammen auf das zuständige Revier gehen.»
«Das ist nicht nötig, ich schaff das schon allein. Aber danke für dein Angebot.»
Sie drückte seine Hand, bevor er losließ. Aber sie wusste, dass sie die Polizei nicht aufsuchen würde. Sie wollte sich nicht lächerlich machen, wie damals nach ihrem Unfall, als sie wegen ihrer Halluzinationen fast täglich aufs Revier gelaufen war.
«Es hat mir schon geholfen, dass du hier warst und mir zugehört hast. Es ist nur so … Wenn Steven nicht da ist, achte ich viel zu sehr auf jedes Geräusch.» Sie lachte unsicher auf.
«Das ist doch normal. Ruf mich an, wenn du dich ängstigst, egal zu welcher Uhrzeit.» Er lächelte ihr aufmunternd zu und hob demonstrativ sein Handy in die Höhe.
«Sag das nicht zu laut, sonst schmeiße ich dich jede Nacht aus dem Bett.»
«Versprich es mir», sagte er ernst.
«Ja, ich verspreche es.»
Ernests Gesichtszüge waren angespannt, die Kiefer fest aufeinandergepresst. Tessa spürte, dass auch ihn etwas bewegte.
«Du hast doch auch etwas auf dem Herzen, oder?», fragte sie.
Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. «Nicht so wichtig», wimmelte er ab.
«Das glaube ich dir nicht. Rück schon raus. Du hast mir die ganze Zeit über zugehört, jetzt bin ich dran.» Liebevoll tätschelte sie seine Hand, aber er druckste noch immer herum.
«Die Kirche müsste renoviert werden», gab er schließlich zu, «von den Wänden bröckelt langsam der Putz und im Gebälk sitzt der Holzwurm. Mein Vorgänger hat nicht viel machen lassen, jetzt zahle ich die Rechnung.»
Mit einem tiefen Seufzer stützte er den Kopf in die Hände. «Ich kann keine Nacht mehr richtig schlafen. Irgendwann kracht uns noch das Dach auf den Kopf. Die Handwerker meinten, wenn ich nicht bald etwas unternähme, müsste ich die Kirche schließen.»
Wie egoistisch sie gewesen war, ihre Probleme bei ihm abzuladen, wo er doch selbst genug Sorgen hatte. «Aber das wäre doch nur für die Zeit der Renovierung.»
Ernests Brauen schossen nach oben, bevor er mit dem Kopf schüttelte. «Ich befürchte nein. Wir haben nicht genug Geld, um die Renovierung zu bezahlen. Wo soll ich dann einen Gottesdienst abhalten? Die Kirchengruppen führen? In meinem kleinen Pfarrhaus?»
Die Summe, die er ihr nannte, ließ ihren Atem stocken. Und das für ein Kirchendach. Wie gern hätte sie ihrem Stiefbruder finanziell unter die Arme gegriffen, aber sie besaß kein großes Vermögen. Sie hätte ihre Aktien verkaufen müssen und das bei den schlechten Kursen. Ein Verlustgeschäft. Und selbst wenn die Kurse sich verdoppelt hätten, würde die Summe nicht mal die Hälfte der Kosten abdecken.
Aber Ernest hatte recht, das Pfarrhaus war viel zu klein. «Vielleicht könnt ihr einen Saal mieten?»
«Tessa, wir haben kein Geld! Auch nicht für die Miete. Ich bete jeden Tag zum Herrn, er möge mir einen Weg aus der Misere zeigen.»
«Hey, wer von uns hat eigentlich den besseren Draht nach oben? Hast du nicht neulich von einem Wunder gesprochen? Warum sollte das nicht auch dir widerfahren? Du hast gesagt, man muss nur fest genug daran glauben.»
Sie wollte ihn aufmuntern, ihm Hoffnung geben, und es schien zu wirken, denn seine Miene hellte sich auf.
Einen Moment überlegte sie, Steven um Geld für Ernest zu bitten, aber sie
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