Nathanael
hat, sondern ermordet wurde.»
Agnes Mayor erbleichte und ihre Lippen bewegten sich, ohne einen Ton hervorzubringen. Als sie in sich zusammensackte, empfand Tessa tiefes Mitleid. Sie beugte sich vor und nahm ihre zitternde Hand.
«Wie kommen Sie darauf?», flüsterte Agnes und betrachtete Tessa mit tränenverschleiertem Blick.
«Weil ich meine Freundin seit Jahren kenne und weiß, dass sie sich nie das Leben nehmen würde. Sie sprühte vor Temperament und Lebenslust, als wir das letzte Mal miteinander telefonierten. So jemand scheidet nicht so mir nichts dir nichts aus dem Leben.»
Agnes Mayor starrte schweigend vor sich hin. Eine Träne stahl sich aus dem Augenwinkel und rollte ihre Wange hinab.
«Das habe ich von meiner Jenna auch geglaubt, bis ich von der Polizei erfahren habe, dass ihr Freund sie verlassen hat.»
Diese Information rief Zweifel in Tessa hervor. Sollte Hazel etwas Ähnliches erlebt haben, wovon sie nichts wusste? Wie gut kannte man einen Menschen wirklich, selbst wenn er einem nahestand? Hatte Hazel ihre Probleme verborgen?
Nachdenklich starrte Tessa vor sich hin und kam zu dem Schluss, dass Hazel mit ihr darüber geredet hätte.
«Jenna litt an Migräne, besuchte eine Therapie. Die brachte auch nichts außer Schlafstörungen. Also nahm sie Schlaftabletten. Die Polizei fand ein Röhrchen in ihrem Nachttisch. Ich hab von alldem nichts gewusst.» Agnes Mayor schlug die Hände vors Gesicht.
«Oh, mein Gott, wie schrecklich.» Tessa wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie spürte, dass keine Worte Agnes Mayor zu trösten vermochten.
Sie zog den Zettel mit den Séanceteilnehmern aus der Tasche.
«Kennen Sie einen Oliver Reardon und einen Arthur Levi? Einer von beiden muss das Medium sein, das alle eingeladen hat.»
Agnes Mayor schüttelte den Kopf. «Die Namen sagen mir nichts. Aber ich kannte nur wenige von Jennas Kollegen. Sie hatte keine Freunde in New York, weil sie noch nicht lange hier wohnte.»
Tessa erhob sich und verspürte ein schlechtes Gewissen, weil ihre Fragen Agnes Mayor aufgewühlt hatten. Die Frau wusste noch weniger als sie. Hier käme sie mit ihren Recherchen auf keinen Fall weiter.
«Vielen Dank, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute.»
«Das wünsche ich Ihnen auch.»
Agnes Mayor stand ebenfalls auf. Sie reichten sich zum Abschied die Hand.
Als Tessa zur Haustür hinaustrat, hatte sie das Gefühl, eine Freundin verlassen zu haben. Sicherlich lag es daran, dass sie und Agnes Leid teilten. Beide trauerten um einen Menschen, der ihnen sehr nahegestanden hatte.
In der Zwischenzeit war es dunkel geworden. Die Läden waren noch geöffnet, zahlreiche Einkaufslustige strömten an ihr vorbei. Sie dachte an Ernests Warnung, tröstete sich aber damit, dass kein Dämon sie angreifen würde, wenn es genügend Zeugen gab.
10.
Eigentlich wollte Tessa zur nächsten U-Bahn-Station laufen, aber ihre Füße hatten genug vom Gehen in den hohen Pumps. Sie winkte ein Taxi heran. Das Gespräch mit Agnes Mayor, von dem sie sich mehr erhofft hatte, beschäftigte sie weiter.
Kein Beweis, der ihre Mordtheorie stützte. Stattdessen hatte Jenna Mayor sich aus Liebeskummer vom Dach gestürzt.
Das Taxi hielt am Straßenrand und Tessa stieg ein. Sie nannte dem Fahrer ihre Adresse und sah zum Fenster hinaus. In der Dunkelheit war Manhattan atemberaubend und gefährlich. Hatte sie nicht eben einen Schatten gesehen, der an den Häusern vorbeigehuscht war?
Unsinn. Hörte das denn nie auf?
Sie sank tiefer in den Sitz und betrachtete die Leuchtreklamen, die an ihr vorbeizogen, als sie plötzlich stutzte. Weshalb fuhr der Taxifahrer weiter in nördliche Richtung, anstatt nach links abzubiegen?
«Sorry, aber Sie hätten eben links abbiegen müssen.»
Als ihr der Mann am Steuer nicht antwortete, sondern unbeirrt weiter geradeaus fuhr, beugte sie sich vor und tippte ihm auf die Schulter.
«Haben Sie mich eben nicht verstanden? Oder sprechen Sie kein Englisch?»
Als sie seine Augen im Rückspiegel sah, erstarrte sie. Sie leuchteten neonrot.
«Halten Sie sofort an!», schrie sie und glaubte, er müsse ihren Herzschlag hören, der ihr in den Ohren dröhnte. Doch er lachte nur und gab Gas.
Sie musste aus diesem verdammten Taxi, und zwar schnell. Wenn du raus springst, brichst du dir alle Knochen , warnte sie eine innere Stimme, die sie zu ignorieren versuchte, weil ihre einzige Chance, diesem Dämon zu entkommen, in der Flucht bestand.
Er brauste mit
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