Natur
dass die Vorstellungen divergieren. Die Landbewohner fassten das, was sie unter Wildnis verstanden, viel enger auf als die Städter, die auch Naturlandschaften, auf denen vereinzelt Häuser, Straßen, Staudämme, Wegweiser und Abholzungen zu sehen waren, als Wildnis empfinden. Die Menschen auf dem Lande würden in der Strategieplanung zum Schutz der Wildnis sehr wahrscheinlich einen strikteren Maßstab anlegen als die Stadtbewohner 28 .
Die Wildnis ist nicht zuletzt auch deshalb die wilde Natur, weil der an die Kultur gewöhnte Mensch nicht mehr damit umgehen kann. Die wilde Natur ist so auch eine Metapher für Ursprünglichkeit. Der Mensch kann eine solche Ursprünglichkeit und «Wildheit» nur in dosierter Form aushalten. Was er als Natur verehrt, ist längst gestaltete Natur. Der Spaziergang in einem Wald ist entspannend und erholsam, gerade weil man sich hier nicht in der Wildnis befindet, in der man auf giftige Schlangen, hungrige Wölfe und angriffslustige Bären treffen könnte.
Ein besonderes Naturerlebnis ist das Übernachten in der freien Natur. Ein Beispiel dafür, dass der Mensch dieses besondere, auch nur kurz dauernde Erlebnis kaum ertragen kann, zeigt die Schilderung des «Dachs-Unternehmens». Ein Mensch aus der Stadt übernachtet im Wald:
Jetzt ist es Nacht, im Wald, tief unter Bäumen, inmitten von zäher Stille und einzelnen Geräuschen. War das da hinten gerade ein schnaubender Dachs? Und was knistert bloß dauernd neben meinem Kopf? Gibt es hier Schlangen? Die Idee hatte verlockend geklungen: abends rausradeln, aus dem Alltag, aus der Wohnung, aus der Stadt, und wild im Wald übernachten, nur mit Iso-Matte und Schlafsack, allein unter alten Bäumen […]. Stille im Sinne stetiger Lautlosigkeit ist beruhigend. Wenn die Stille aber immer wieder von einzelnen Tapsern, von rätselhaftem Summen und Knacksen unterbrochen wird, hat sie eine ganz andere Wirkung […] Zwei Minuten später raschelt etwas durchs Dunkel. Fuchsfüße? Oder ist es ein Mensch? […] Der ganze Wald ein Hörspiel, und Regie führt die eigene Angst […]. Die Geborgenheit, die der Wald mit seinem Blätterdach tagsüber gibt, verkehrt sich nachts ins Gegenteil […] (Rühle, 2009, S. 17) 29 .
Je mehr die Wildnis als Kontrastwelt an Attraktivität gewinnt und je mehr sie zu einem Pull-Faktor wird, umso mehr Menschen werden sich auf den Weg dorthin machen. Die letzten Reste der vom Menschen unberührten Natur werden auf diesem Wege vom Tourismus erschlossen, der dieAttraktivität einer ursprünglich erscheinenden Natur kommerziell zu nutzen versteht.
2.4 Unterschiede im Naturerleben
Der Kindheits-Faktor
Dass das Bedürfnis nach Natur individuell unterschiedlich ist, zeigt schon die Beobachtung, dass manche Menschen gern Stadt fern im Grünen und andere lieber Natur fern in der Stadt leben. Diesen beiden Gruppen haben Regan & Horn (2005) Leitfiguren zugeordnet: Thoreau, den Naturmenschen, und Michelangelo, den Stadtmenschen. Die beiden Leitfiguren repräsentieren die entgegen gesetzten Endpunkte einer Skala, auf der die meisten Menschen im Mittelfeld liegen. Nach den Recherchen von Regan & Horn war Thoreau davon überzeugt, dass der Mensch die Natur braucht und dass er niemals genug davon bekommen kann 30 . Ganz anders hatte sich Michelangelo geäußert, der die Stadt über alles liebte und für den die Natur keine befreiende und erlösende Wirkung gehabt haben soll. Anzunehmen ist, dass Thoreau schon als Kind viel mit der Natur in Berührung gekommen ist, nicht aber Michelangelo, denn die Umwelt der Kindheit beeinflusst unsere Vorlieben (Schneewind & Pekrun, 1994; Regan & Horn, 2005). Daraus folgt aber auch, dass man eine Gegend oder Landschaft, die man nicht kennen gelernt hat, auch nicht vermissen wird. Wer fern der Natur aufwächst und die Natur nicht erfahren hat, entwickelt kaum ein Bedürfnis nach Natur.
Doch wie sieht es mit dem empirischen Nachweis aus, dass sich die Wertschätzung der Natur und die Vorliebe für bestimmte Landschaften durch Erfahrungen in der Kindheit heraus bilden? Um Zusammenhänge zwischen dem Erleben von Natur in der Kindheit und der Art der Beziehung zur Natur im Erwachsenenalter ausfindig machen zu können, wären eigentlich Längsschnittuntersuchungen erforderlich, wobei die Untersuchung im Kindesalter beginnen müsste und wobei zu ermitteln wäre, wie viel Natur im Lebensraum des Kindes vorhanden ist. Etwa zwei Jahrzehnte später müssten dann die Einstellungen dieser ehemaligen Kinder zur
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