Nayidenmond (German Edition)
können uns zwar bis zum Eingang der Grotten verfolgen, aber wer nicht genau weiß, was er tut, sollte diesen Weg nicht wagen. Es sind schon unzählige Menschen da drin verloren gegangen.“
„Der Weg endet südlich, am Albinpass, nicht wahr?“, murmelte Iyen nachdenklich. „Es dauert zu Pferd höchstens zwei Tage, auf normalen Pfaden dorthin zu gelangen, wie schnell geht es unterirdisch?“ Rasch schätzte er ab, wie weit dieses Höhlensystem entfernt sein mochte, und nickte innerlich. Falls sich Rouven dort wirklich auskannte, wäre es ein gutes Versteck.
„Wenn du für Licht sorgen kannst, würden wir etwa einen Dreivierteltag Vorsprung gewinnen, abhängig davon, ob die Oshanta uns hart auf den Fersen bleiben, bis wir in den Grotten sind, und ob sie nachts schlafen oder nicht.“
„Das muss genügen. Kannst du wieder laufen?“
„Gehen ja, laufen nein.“ Rouven stand mühsam auf, sackte allerdings sofort ächzend in sich zusammen und wäre gestürzt, hätte Iyen ihn nicht gestützt. Leise stöhnend lehnte er sich an Iyens Brust, offenbar war ihm schwindelig. Die Nähe des warmen, lebendigen Körpers war weitaus angenehmer, als Iyen sich selbst zugestehen wollte. Er widerstand dem Verlangen, Rouven zu umarmen und schützend zu halten, so wie vor sechs Jahren; es würde sie beide nur gefährden.
Ich muss ihn härter behandeln, auf Distanz halten. Wir sind auf der Flucht! Er ist nicht für mich bestimmt. Ich beschütze ihn bis zum Ende des Nayidenmondes, dann trennen sich unsere Wege endgültig. Er braucht keinen Oshanta. Was ich hingegen brauche …
„Los jetzt“, knurrte er und schubste ihn in die richtige Richtung.
„Wie lange werden wir …“, begann Rouven. Musste er denn wirklich immer rebellieren, statt einer klaren Anweisung zu folgen? Ohne nachzudenken, packte Iyen ihn im Nacken und gab ihm einen kräftigen Klaps mit der flachen Hand auf das Hinterteil.
„Keine Fragen stellen, still sein, nicht wehren!“, erinnerte er ihn kalt. Er konnte sein Gesicht nicht sehen, wofür er dankbar war, der Schlag tat ihm bereits leid. Dass Rouven danach still blieb, dafür war er noch viel dankbarer. Die ganze Situation war auch so schon kompliziert genug …
7.
„Ein Oshanta hat kein Herz, keine Seele, keine Gnade.“
Allgemein bekannte Weisheit
Es dämmerte, als sie endlich die Grotten erreichten. Rouven war so müde, dass er im Stehen hätte schlafen können, doch ihm war klar, dass sie dafür keine Zeit hatten. Der großartige Anblick der weißen Tropfsteinhöhlen berührte ihn nicht, obwohl er sonst noch jedes Mal atemlos stehen geblieben war. Der flackernde Schein von Iyens Fackel bildete die Grenzen seiner bewussten Wahrnehmung. Glücklicherweise kannte er vor allem die vorderen Höhlen ebenso gut wie sein eigenes Schlafgemach, hatte er schließlich seine halbe Kindheit und Jugend damit verbracht, sich hier mit seinen Geschwistern zu verstecken. Gemeinsam mit Barlev und Silissa, seiner Lieblingsschwester, hatte Rouven jeden Fußbreit hier unten erkundet. Zumindest, bis Silissa ins Frauenhaus übersiedeln musste.
Zielsicher führte er Iyen an tief hängenden wie spitz aufragenden Stalagmiten und Stalaktiten vorbei, watete durch das knöcheltiefe Wasser eines kleines Salzsees zu dem gut verborgenen Gang, der sie in die nächste Höhle brachte, kleiner und weniger schön, aber der Ausgangspunkt eines komplizierten Tunnelsystems, das sich durch den gesamten Berg zog. Wer diese Gänge in das Gestein getrieben hatte, und warum, dazu gab es viele Legenden: Von Schmugglern, Schatzsuchern, Monstern und mal guten, mal bösartigen Zauberwesen gab es nichts, was es nicht gab.
„Glaubst du, wir haben sie abgehängt?“, fragte er, ohne nachzudenken. Prompt wurde er wieder im Nacken gepackt und bekam den nächsten Hieb auf den Po, wodurch er beinahe die Fackel verloren hätte.
„Keine Fragen!“, zischte Iyen, starrte drohend auf ihn herab. Eingeschüchtert und müde nickte Rouven ihm zu und marschierte weiter. Er fühlte sich so klein, so hilflos unter diesem Blick, war viel zu erschöpft, um sich gegen die Demütigung zu wehren. Vermutlich hatte er den Oshanta durch irgendetwas verärgert, es musste einen Grund geben, warum er jetzt wieder so abweisend war, nachdem er anfangs recht freundlich gewirkt hatte. Vielleicht war es aber auch nur der Druck, ihren Feinden zu Fuß entkommen zu müssen, statt wie geplant auf Pferden in Sicherheit zu gelangen?
Trotzdem kein Grund, mich so zu
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