Nebelgrab (German Edition)
vergrößern sich meine Probleme. Um 10.30 Uhr habe ich Pause, kommen Sie in den Rosengarten«, sagte er so leise, dass nur Adrian ihn hörte. Adrian nickte erleichtert.
Es war Montagmorgen, die Geschäfte waren noch geschlossen, und die Stadt war zu dieser Zeit ruhig und behäbig. Adrian waren die frühen Morgenstunden in Herbst und Winter immer schon ein Graus. Er mochte die Atmosphäre der dunklen Monate nicht. Die nasskalte Luft, die ihn frösteln ließ, noch bevor er ganz dem Bett entstiegen war; die Dunstwolken der Menschen, die sich mit ihren Regenschirmen und Taschen in den schon vollen Bus drängten, bereits am frühen Morgen ungeduldig und frustriert über ihre anstehenden Tagesarbeiten, schoben eventuell aufkommende fröhliche Gedanken schnell zur Seite.
Jenen Frust hatte er auch als Kind mit sich herumgetragen, und wenn er auf seinem Schulweg mehr schlecht als recht aus dem beschlagenen Fenster des Busses geblickt hatte, hatte nichts seine Heiterkeit wecken können. Die dunklen Fassaden, nur einige Geschäfte, die Tag und Nacht ihre Schaufenster beleuchteten, geduckte Menschen hinter dunstigen Autoscheiben, verkühlte Radfahrer, die sich an roten Ampeln ihre behandschuhten Hände rieben. Er hatte den Herbst nie gemocht. Er folgte dem Mainstream und schimpfte auf die Kälte und Dunkelheit und konnte sich auch jetzt nicht gegen das bedrückende Gefühl wehren, das die Kälte auf ihn ablud.
Es fiel ihm schwer zu überlegen, wie er die Zwischenzeit überbrücken sollte. Bestimmt hatte schon eine Bäckerei mit Kaffeetheke geöffnet. Dann könnte er sich im Umkreis von Beckers Wohnung zumindest mal umsehen. Vielleicht kam ihm wieder der Zufall zu Hilfe. Er hoffte immer auf den Zufall. Und manchmal erfüllte sich diese Hoffnung. Er atmete lange aus und sah seine Atemwolke fasziniert an. Dann machte er sich auf den Weg. Er war noch nicht weit gekommen, als er die Haushälterin des toten Professors Wiedener auf die Straße treten sah. Kurz entschlossen rief Adrian ihr nach und lief sofort auf sie zu, ohne zu wissen, was er sagen sollte. Auch sie sah ihm verwundert und misstrauisch entgegen.
Adrian stellte sich zunächst vor und dachte sich, am besten wieder in die Offensive zu gehen. So erwähnte er, er habe am Freitag einen Termin mit Wiedener gehabt, doch leider …
Die Frau bekam feuchte Augen und erwiderte: »Ach, Sie sind der Reporter? Der Professor war so erleichtert, dass Sie ihn angerufen haben. Er wollte so gern, dass sein Buch an die Öffentlichkeit gelangt.«
»Kennen Sie das Buch?«
»Nein! Er hat ein großes Geheimnis darum gemacht. Nur wenige Leute wussten, womit er sich beschäftigt.«
»Wer denn zum Beispiel?«
»Tja, der Professor Hecker, der war sein bester Freund, der wusste von der Geschichte, und wer noch?« Sie legte einen Zeigefinger an die Nase und überlegte einige Sekunden. »Ach, wissen Sie was, junger Mann, kommen Sie doch einen Moment herein. Auf der Straße redet es sich so schlecht. Ich mache uns einen Kaffee. Sie scheinen ein aufrechter Mensch zu sein.«
Adrian war peinlich berührt, ging aber gern auf das Angebot ein. Wer A sagt, muss auch B sagen, dachte er, und seine Gedanken wanderten kurz zum vergangenen Freitag. Er wog das Wort »aufrecht« hin und her, fühlte sich schäbig und empfand jene Emotion als augenblicklich ausreichende Strafe.
In der Wohnküche des Verstorbenen ließ er sich nieder und wenig später duftete es nach frisch gebrühtem Kaffee. Mit einer Tasse in der Hand wurde Frau Stein redselig.
»Ich war 13 Jahre lang seine Haushälterin, da bekommt man eine Menge mit. Wissen Sie, der Professor war ja nie verheiratet, aber eine heimliche Liebe soll er gehabt haben. Leider haben sich die beiden nie wiedergesehen, obwohl er extra ihretwegen nach Süchteln gezogen sein soll. Und dann hat ihn immer etwas gequält. Sie bekommen das mit, wenn Sie tagein, tagaus jemandem den Kaffee machen und ihn über den Tag begleiten. Es war etwas in seinem Inneren, das ihn nie in Ruhe gelassen hat. Erst als er dieses Buch begonnen hatte, wurde er ruhiger. Ich vermute, er hat sich damit etwas von der Seele geschrieben. Aber fragen Sie mich nicht, was es war. Wie gesagt, er sprach mit mir nicht darüber.« Sie nippte an ihrer Tasse.
»Hat er dieses Buch per Hand oder am PC oder mit der Schreibmaschine geschrieben?« Adrian konnte sich nicht daran erinnern, einen PC im Büro gesehen zu haben.
»Oh, er war altmodisch, der Herr Wiedener. Er hat alles mit der Schreibmaschine
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