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Nebelsturm

Nebelsturm

Titel: Nebelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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hatte, begann praktisch neben seinen Füßen und führte in einer Spirale nach oben, an der einen Seite mit der Wand, an der anderen mit einem dicken Pfeiler in der Turmmitte verbunden. Sie verschwand im Dunkeln, aber er konnte ein schwaches Licht sehen, vermutlich fiel es durch die schmalen Turmfenster.
    Auf dem Boden lagen Gegenstände herum. Ein paar leere Bierflaschen, ein Stapel Zeitungen und eine rotweiße Blechbüchse mit der Aufschrift CALTEX PETROLEUM.
    Neben der Steintreppe befand sich eine niedrige Holztür. Als Joakim sie aufschob, fand er dahinter noch mehr Müll: alte, aufeinandergestapelte Holzkisten, Leergut und an den Wänden grüne Fischernetze. In der Ecke stand sogar etwas, das aussah wie eine alte Mangel.
    Der Turm war als Müllhalde benutzt worden.
    »Papa?«, rief Livia von draußen.
    »Ja?«, antwortete Joakim und hörte, wie das Echo seiner Stimme von der Steintreppe zurückgeworfen wurde.
    Livias Gesicht tauchte im Türspalt auf.
    »Kann ich jetzt auch reinkommen?«
    »Wir können es probieren … Stell dich auf den Steinblock, dann kann ich versuchen, dich reinzuziehen.«
    Als seine Tochter sich durch den Spalt quetschte, wusste Joakim sofort, dass er ihm unmöglich gelingen würde, gleichzeitig die Tür aufzudrücken und Livia hochzuheben. Das Risiko, dass sie stecken blieb, war ihm zu groß.
    »Ich glaube nicht, dass es klappt, Livia!«
    »Aber ich will!«
    »Wir müssen zum Südturm gehen, vielleicht geht es da …«
    Plötzlich hörte er ein scharrendes Geräusch. Er drehte den Kopf und lauschte.
    Schritte. Es klang wie Schritte, weit oben auf der Treppe.
    Das Geräusch kam eindeutig aus der Turmspitze. Er redete sich gut zu, aber es klang wie schwere Schritte – als würden sie sich langsam die Treppe hinunterbewegen.
    Das war nicht Katrine, das war jemand anderes.
    Schwere Schritte … wie die eines Mannes.
    »Livia?«, rief Joakim.
    »Ja?«
    Sie stand vor der Tür. Plötzlich wurde ihm klar, wie nah sie am Wasser war, wenn sie nur ein, zwei Schritte nach hinten machen würde und stürzte … und Gabriel war allein im Haus. Wie hatte er ihn da nur alleine zurücklassen können?
    »Livia?«, rief er erneut. »Bleib da stehen, ich komme wieder raus.«
    Er hielt sich an der Tür fest und zog sich hoch. Es schien ihm, als wolle die Tür ihn festhalten, aber er zwängte sich mit aller Kraft durch den Spalt. Es hatte etwas Komisches, wie eine Geburtsparodie, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Livia sah ihn mit angsterfüllten Augen an. Joakim sprang auf die Steinplatte und atmete die kalte, frische Meeresluft tief ein.
    »So«, sagte er und schob die Tür hinter sich zu. »Jetzt laufen wir zurück zu Gabriel. Wir gehen ein anderes Mal in den Südturm, ja?«
    Während er das Hängeschloss wieder anbrachte und sicherte, erwartete er eigentlich Proteste, aber Livia schwieg. Wortlos nahm sie seine Hand und hielt sie den ganzen Weg zurück nach Hause fest. Die Dämmerung war mittlerweile angebrochen.
    Joakim musste an die Geräusche im Turm denken.
    Höchstwahrscheinlich war es nur das Sausen des Windes gewesen oder eine Möwe, die gegen das Fensterglas geklopft hatte. Keine Schritte.

WINTER 1916
    Die Toten versuchen, mit uns in Kontakt zu kommen, Katrine. Sie wollen mit uns sprechen, wollen, dass wir ihnen zuhören.
    Was wollen sie uns denn sagen? Vielleicht, dass wir dem Tod nicht vorauseilen sollen.
    Auf dem Dachboden der Scheune ist eine Jahreszahl aus der Zeit des Ersten Weltkrieges in die Wand geritzt: 7. Dezember 1916. Dahinter stehen ein Kreuz und der Anfang eines Namens: † GEOR-
    Mirja Rambe
    Die Frau des Leuchtturmmeisters, Alma Ljunggren, sitzt an ihrem Webstuhl in der Kammer auf der Rückseite des Wohnhauses. Hinter ihr tickt eine Wanduhr. Alma kann von dort aus nicht das Meer sehen, und das ist ihr sehr recht. Sie will gar nicht sehen, was ihr Mann und die anderen Leuchtturmwärter unten am Strand veranstalten.
    Im Hof sind keine Stimmen zu hören, alle Frauen sind mit am Strand. Alma weiß, dass sie eigentlich auch dort sein müsste, um ihren Mann zu unterstützen, aber sie traut sich nicht. Sie hat keine Kraft, eine Stütze zu sein, sie kann kaum atmen vor Angst.
    Die Wanduhr tickt unbeirrt weiter.
    Ein Seeungeheuer ist an diesem Wintermorgen ans Ufer vor Åludden gespült worden, im dritten Jahr des großen Krieges. Das Ungeheuer wurde am Tag nach dem schrecklichen nächtlichen Schneesturm entdeckt; ein schwarzes Monster mit spitzen Stahlstacheln am ganzen

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