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Nebelsturm

Nebelsturm

Titel: Nebelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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bekomme ich Angst. Noch nie zuvor habe ich so viel Schnee gesehen, der Wind rüttelt wütend an den Fenstern.
    Nach einer unendlich langen halben Stunde sehe ich eine kleine Gestalt über den Innenhof stapfen.
    Ich stürze nach draußen und kann Torun auffangen, bevor sie zusammenbricht. Vorsichtig setze ich sie vor den Kamin.
    Die Tasche mit den Farben hängt ihr über der Schulter, aber die Staffelei hat der Sturm fortgerissen. Sie hat mit Sand gemischte Hagelkörner in die Augen bekommen, die sind ganz geschwollen, sie kann kaum etwas sehen. Ich ziehe ihr die vollkommen durchnässten Kleidungsstücke aus, ihr Körper ist ausgekühlt und steif gefroren.
    Sie hat auf der anderen Seite des Opfermoores gesessen und gemalt, als sich plötzlich die Wolken zusammengebraut haben und ein Sturm aufgezogen ist. Torun hat versucht, eine Abkürzung über die Grasbüschel und das zugefrorene Moor zu nehmen, ist aber im Wasser eingebrochen und konnte sich nurmit größter Mühe auf festeren Untergrund kämpfen. Sie flüstert:
    »Die Toten kamen aus dem Moor … viele, sie wollten mich packen, rissen und zerrten an mir … sie waren kalt, so kalt. Sie wollten mir meine Wärme nehmen.«
    Torun redet wirr. Ich flöße ihr heißen Tee ein und bringe sie zu Bett. Zwölf Stunden lang schläft sie tief und fest. Ich sitze am Fenster, wache und beobachte, wie der Schneesturm gegen Abend abnimmt.
    Kaum ist Torun aufgewacht, redet sie erneut von den Toten aus dem Moor. Ihre Augen sind zerkratzt und blutunterlaufen, aber bereits am nächsten Abend sitzt sie wieder vor einer Leinwand und malt.

21
    K aum war es Tilda gelungen, nicht jeden Morgen und Abend an Martin Ahlquist zu denken, rief er sie an. Sie dachte, es sei Gerlof, und ging ohne böse Vorahnungen ans Telefon.
    Aber es war Martin.
    »Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht. Ist alles in Ordnung?«
    Tilda schwieg, ihre Magenschmerzen meldeten sich sofort wieder. Nachdenklich blickte sie über die leeren Bootsanleger unten am Hafen.
    »Es geht mir gut«, antwortete sie nach einer Weile.
    »Gut oder nur geht so?«
    »Gut!«
    »Hättest du gerne Besuch?«, fragte Martin.
    »Nein.«
    »Ach, ist es nicht mehr einsam auf Nordöland?«
    »Doch, aber ich sorge für Beschäftigung.«
    »Prima.«
    Ihre Unterhaltung war nicht unangenehm, aber sehr kurz. Martin beendete das Gespräch mit der Frage, ob er sie wieder anrufen dürfe, und ihre Antwort war ein fast geflüstertes »Ja«.
    Die Wunde irgendwo zwischen Herz und Magen brach auf und begann zu bluten.
    Nicht Martin ruft mich an, dachte Tilda, seine Hormone sind es. Er ist einfach nur scharf auf mich und sehnt sich von zu Hause fort, weil er den Alltag nicht erträgt …
    Das Schlimmste daran war, dass sie ihn trotzdem herbeisehnte, am liebsten gleich und sofort. Das war doch krank.
    Sie hätte schon vor langer Zeit den Brief an seine Frau abschicken sollen, stattdessen lag er schwer wie ein Backstein in ihrer Jackentasche.
    Tilda arbeitete viel, genau genommen arbeitete sie ununterbrochen, um bloß nicht an Martin denken zu müssen.
    Abends saß sie stundenlang an ihren Vorträgen über Verkehrserziehung oder die Rechtsprechung, die sie in Schulen und Unternehmen hielt. Und sooft sie es zwischen ihre Fußpatrouil len und Schreibtischarbeiten einschieben konnte, setzte sie sich in den Streifenwagen und fuhr durch die Gegend.
    An einem Dienstagnachmittag fuhr sie die verlassene Küstenstraße entlang und hielt an, als vor ihr die Doppelleuchttürme von Åludden auftauchten. Aber sie wollte nicht Joakim Westin besuchen, sondern bog stattdessen auf die Einfahrt des benachbarten Bauernhofes. Carlsson hieß die Familie, das erinnerte sie. Nur ein einziges Mal war sie dort gewesen, in jener schweren und unendlich langen Nacht nach dem tragischen Unfalltod von Katrine Westin, als Joakim im Wohnzimmer des Nachbarhauses zusammengebrochen war.
    Die Frau des Hauses, Maria Carlsson, erkannte sie sofort wieder.
    »Nein, wir haben Joakim in diesem Herbst nicht so oft zu Gesicht bekommen«, sagte sie entschuldigend, nachdem sie sich an den Küchentisch gesetzt hatten. »Wir haben nicht etwa gestritten, aber er hat sich sehr zurückgezogen. Seine Kinder haben allerdings häufiger mit unserem Andreas gespielt.«
    »Und wie war das mit seiner Frau Katrine?«, hakte Tilda nach. »Haben Sie sich häufiger gesehen, als sie hier noch allein mit den Kindern wohnte?«
    »Na ja, sie war ein paarmal zum Kaffeetrinken hier … aber ich glaube, sie hatte

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