Nebelsturm
Medikament und verabschiedet uns.
Torun ist furchtbar wütend, weil ich mich weigere, die Tabletten zu nehmen.
Anfang der Fünfzigerjahre ziehen wir nach Öland. Anlass ist eine von Toruns berüchtigten Eingebungen. Ich glaube nicht, dass sie vorher schon eine Beziehung zur Insel hatte. Nach Paris zog sie als junge Frau eine tiefe Sehnsucht nach einem künstlerischen und musischen Milieu. Und diese liegt auch diesem Umzug zugrunde. Öland ist berühmt für sein Licht und die Maler, denen es gelungen war, es einzufangen. Meine Mutter redet in einem fort von Nils Kreuger, Gottfrid Kallstenius und Per Ekström.
Mir ist alles recht, Hauptsache, wir sind weit weg von dem alten, ekelhaften Arzt.
Wir kommen mit der Fähre in Borgholm an. Unser gesamtes Hab und Gut haben wir in drei Reisetaschen untergebracht, dazu kommt Toruns Paket mit ihren Leinwänden und den Ölfarben. Borgholm ist eine hübsche kleine Stadt, aber Torun ist dort nicht glücklich. Die Bewohner sind ihr zu steif und vornehm, außerdem sind die Mieten auf dem Land wesentlich billiger. Also ziehen wir nach ein paar Jahren wieder um, in ein rotes Häuschen in Rörby. Unter einer Schicht aus drei Decken müssen wir schlafen, weil es dort fürchterlich zieht und eiskalt ist.
Ich komme in die Grundschule. Meine Mitschüler finden, dass ich affektiert rede und Großstadtsprache spreche. Ich schweige und sage ihnen nicht, was ich von ihrem Bauerndialekt halte. Trotzdem finde ich keine Freunde.
Bald darauf beginne ich meine künstlerische Laufbahn. Ich zeichne weiße Gestalten mit roten Mündern. Torun deutet sie als Engel, dabei stellen sie den Doktor mit aufgeschlitztem Mund dar.
Als ich geboren wurde, war Hitler der größte Schurke. Meine Kindheit jedoch ist geprägt von der Angst vor Stalin und der Sowjetunion. Meine Mutter erzählt mir ständig, dass die Russen unser Land mit ihren Flugzeugen in weniger als vier Stunden erobern können. Zuerst okkupieren sie Gotland und Öland und danach den Rest des Landes.
Für mich sind vier Stunden noch eine sehr lange Zeit, und ich mache mir viele Gedanken, was ich in den letzten Stunden meiner Freiheit so anstellen werde. Wenn uns die Nachricht erreichen würde, dass die Russen unterwegs sind, würde ich, so schnell es geht, in den Kaufmannsladen von Rörby rennen und so viele Süßigkeiten und Schokolade wie möglich in mich rein stopfen, ihren Lagerraum leer räumen, so viele Buntstifte, Papier und Wasserfarben, wie ich zu fassen bekäme, mitnehmen und zurück nach Hause rasen. Dann könnte ich auch den Rest meines Lebens als Kommunistin leben, Hauptsache, ich dürfte malen.
Wir ziehen von Hof zu Hof und wohnen in gemieteten Zimmern, die alle nach kürzester Zeit nach Terpentin und Ölfarben stinken. Torun arbeitet als Putzfrau und malt in ihrer Freizeit – sie nimmt ihre Staffelei mit nach draußen und malt und malt wie eine Besessene.
Im Herbst 1959 ziehen wir ein weiteres Mal um, in eine noch günstigere Bleibe. Der Wohnraum befindet sich auf dem hundert Jahre alten Hof Åludden. Im ehemaligen Waschhaus mit weiß gekalkten Steinwänden. An heißen Sommertagen ist es dort herrlich kühl und schön, aber den Rest des Jahres unerträglich kalt.
Als ich erfahre, dass wir in der Nähe von Leuchttürmen wohnen werden, tauchen in meiner Phantasie magische Bilder auf. Dunkle, stürmische Nächte, Schiffe in Seenot und heldenhafte Leuchtturmwärter.
Wir ziehen an einem grauen Oktobertag im Waschhaus ein, und ich fühle mich sofort nicht willkommen. Åludden ist ein kalter und windiger Ort. Zwischen den großen Holzhäusern umherzulaufenfühlt sich an, als würde man über einen menschenleeren Burghof schleichen.
Meine Traumbilder bewahrheiten sich leider nicht. Die Leuchtturmwärter haben vor langer Zeit den Hof verlassen und kommen nur selten zu Besuch vorbei – die Leuchttürme wurden bereits kurz nach Kriegsende elektrifiziert und zehn Jahre später vollständig automatisiert. Einen alten Aufseher gibt es noch, er heißt Ragnar Davidsson und lungert auf dem Hof herum, als würde er ihm gehören.
Etwa zwei Monate nach unserem Umzug nach Åludden erlebe ich meinen ersten Nebelsturm und bin kurz davor, Waise zu werden.
Es ist Mitte Dezember. Als ich von der Schule komme, ist Torun nicht zu Hause. Auch ihre Staffelei und die Tasche mit den Farben sind weg. Die Dämmerung bricht herein, der Wind hat zugenommen, und der Schneefall ist dichter geworden.
Aber Torun kommt nicht. Zuerst bin ich sauer, dann
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