Nehmt Herrin diesen Kranz - Schacht, A: Nehmt Herrin diesen Kranz
mit ihren feinsinnigen Beobachtungen. Aber sie war möglicherweise noch in der Lage, Gislindis zu verblüffen, überlegte Alyss und sagte: »Lasst das Schwert hier. Master John wird es abholen, wenn er seine Tuche verkauft hat.
Und nun, Gislindis, setzt Euch zu mir und reicht mir Eure Hand.« Der verwirrte Gesichtsausdruck ihrer Besucherin entlockte Alyss ein feines Lächeln. »Nur zu, Ihr seid nicht die Einzige, die das Schicksal zu deuten weiß«, ermunterte sie sie und zog einen zweiten Schemel heran. Zögernd setzte sich Gislindis und reichte ihr, nachdem sie sie ein paar Mal an ihrem Rock abgewischt hatte, die Linke. Alyss nahm sie in ihre Hände und begutachtete die schwielige Haut, die von harter Arbeit zeugte. Die Linien darin sagten ihr nichts, doch als sie mit den Fingerspitzen darüberfuhr, durchzog sie ein ganz seltsames Gefühl. Ein Wissen, von fern her, uralt und doch vertraut, breitete sich in ihr aus. Sie nahm den Blick von Gislindis’ Hand und betrachtete den gesenkten Kopf der jungen Frau. Es lag Gold über ihrem Haupt wie eine Luftspiegelung an heißen Tagen, ein verschwimmendes Bild, doch deutlich genug. Überraschend, unvermutet – oder vielleicht doch nicht so sehr? Einen Augenblick rang Alyss mit sich, ob sie aussprechen sollte, was sie sah, aber da übernahm ihre Zunge bereits die Führung.
»Ich werde sie Euch leihen, wenn es an der Zeit ist«, hörte sie sich selber flüstern.
Gislindis zuckte zusammen und zog ihre Hand weg.
»Das dürft Ihr nicht sagen, wohledle Frau. Das dürft Ihr nicht.«
Alyss schüttelte das eigenartige Gefühl ab, nickte und wurde wieder nüchtern.
»Nun, dann wollen wir über das plaudern, was Euch wirklich hergeführt hat.«
»Zufälle nur. Ein Beutelchen Münzen, das bei den Aldenhovens gestohlen wurde, ein wenig Silberzeug, das am Freitag
bei dem Buntwörter am Perlepfuhl geraubt wurde. Und das, obwohl sein Weib im Haus war. Die arme Marte hat sich das Bein gebrochen und konnte nichts tun als schreien.«
»Wie entsetzlich. Waren es dieselben Diebe?«
»Weiß man das?«
»Eine Warnung?«
»Möglich schon. Auch Ihr habt den kleinen Schatz eines Buntwörters in Eurem Heim.«
»Schatz nicht, Satansbraten eher.«
Gislindis lachte fröhlich auf.
»Ich werde ihn mahnen, wenn Ihr gestattet.«
»Mit Euren Hexenaugen?«
»Pssst!«
Alyss sah aus dem Fenster. Ein Sonnenstrahl verirrte sich in das Kontor und ließ Stäubchen in der Luft tanzen. Gislindis war keine Zaubersche, aber sie verfügte über eine eigene Weisheit. Jetzt und hier fühlte sie sich plötzlich sehr verbunden mit ihr. Schweigend genoss sie dieses Gefühl von Vertrauen und Freundschaft.
Die Stille durchbrach schließlich Gislindis, die mit einem Finger über den mit kunstvollen Blattranken geprägten Ledereinband eines Buches strich.
»Was steht in diesem Buch drin, wohledle Frau? Könnt Ihr das lesen?«
»Ja, ich kann es lesen. Und es ist nicht recht, dass dieses Buch hier im Kontor liegt, denn es ist eines mit Gedichten, nicht mit Zahlen von Käufen und Verkäufen. Vermutlich hat Tilo es hierher mitgenommen, um sich die Zeit zu vertreiben.«
»Was er nicht sollte?«
»Er ist fleißig genug.«
»Was für Gedichte?«
»Nicht solche Liedchen wie die Euren, Gislindis.«
»Nein, sicher nicht. Meine sind es nicht wert, aufgeschrieben zu werden. Aber ich würde gerne eines hören, dem diese Ehre gebührt. Habt Ihr die Güte, wohledle Frau, mir eines, ein ganz kleines, vorzutragen?«
Wieder war da diese ungewohnte Schüchternheit in ihrer Stimme; davon gerührt schlug Alyss den Band auf, blätterte ein paar Seiten um und fand ein paar passende Verse.
»Mir haben meine Augen gewählt einen jungen Mann.
Den neiden mir andere Frauen. Ich hab ihnen nichts andres getan
Als dass ich mir verdient hab, dass ich seine Liebste bin.
Daran will ich nun kehren mein Herz und meinen Sinn.
Die, welche ihm zu Willen zuvor gewesen ist,
verließ durch eigne Schuld ihn.
Ich will sie nun nicht tadeln, seh ich sie glücklos stehn.« 2
»Das steht da?« Ganz vorsichtig ließ Gislindis ihre Fingerspitze über die Buchstaben gleiten. Und mit plötzlicher Hellsichtigkeit erkannte Alyss, warum Gislindis wirklich gekommen war und was sie sich nun nicht traute auszusprechen.
»Ihr möchtet lesen lernen, nicht wahr?«
»Ja, wohledle Frau«, kam es ganz leise.
»Nun, Ihr seid hell von Witz, es wird Euch bald gelingen. Ich hole Euch mein Abecedarium. Wartet hier.«zu
Ihr Lehrer aus Kindheitstagen, Pater
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