Nele Paul - Roman
Handy sinken und schaute über die Felder. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, als wären die Jahreszeiten abgeschafft worden. Das Pochen in meinem Schädel hatte zugenommen. Ich stand mit gefühlten vier Promille in der prallen Sonne und telefonierte. Was tat man nicht alles aus Freundschaft.
In der Küche empfingen mich eine gut gelaunte Mutter, ein gut gelauntes Mädchen und ein gut gelaunter Hund. Ich bekam zwei Küsse, einen Knieschleck, einen Kaffee und einen Stuhl. Ich schlürfte Kaffee und blinzelte durchs Fenster hinaus in den Tag, der jetzt schon keine Missverständnisse aufkommen ließ. Was der Wetterbericht uns versprochen hatte, schien zu stimmen, der Sommer blieb uns treu, obwohl bald Oktober war. Ich versuchte, nicht an die Gletscherschmelze zu denken, steckte humorige Aussagen über mein Aussehen ein und bekämpfte meinen Zustand mit weiteren Kopfschmerztabletten. Mein Schädel pochte, meinem Magen war flau, doch bei der geballten Fröhlichkeit hatte man keine Chance. Mor packte allerlei Großküchengeschichten aus, die ich schon lange nicht mehr gehört hatte. Während ich die Kanne leerte, kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht nicht der Einzige war, dem Neles Heimkehr guttat.
Und dann legten wir los. Um nicht zweimal gehen zu müssen, beluden wir uns wie die Ochsen. Ich schleppte mich mit einer Leiter, einer Axt, der Motorsäge und einer vollgepackten Kühlbox ab. Nele trug einen Werkzeugkastensowie Müllsäcke, Besen, ein Kehrblech und zwei Tüten mit Kleinkram wie Handschuhe, Pflaster und Ersatzglühlampen. Bei jedem Schritt klapperten wir wie gichtkranke Roboter, und mehr als einmal stolperte ich über November, der fröhlich neben uns her sprang.
Die Villa erwartete uns stoisch. Wir luden den ganzen Plunder stöhnend vor der Haustür ab und diskutierten, wer den verdammten Schlüssel eingesteckt hatte. Als ich ihn schließlich in meiner Hosentasche fand und ihn in die Haustür steckte, behielt ich Nele im Auge. Ich sah nichts als Tatendurst.
Kaum war die Tür auf, strich November wie an der Schnur gezogen an uns vorbei. Ich knipste das Flurlicht an und rannte gegen eine Gestankswand. Vielleicht lag es diesmal auch an Novembers Beutehaufen, den er fein säuberlich im Flur gestapelt hatte. Nele stöhnte und packte einen Müllsack aus. Ich nutzte den Schwung, ging zielstrebig ins Wohnzimmer und steuerte einen Raum an, den wir am Vortag ausgelassen hatten. Sein Schlafzimmer.
Ich stieß die Tür auf und wurde von einem Mief aus Bier und Schimmel begrüßt. Ein Bett. Vor Dreck strotzende Laken. Daneben eine Kommode. Angekokelt. Neben dem Bett lagen gebrauchte Kondome auf dem Teppich wie vertrocknete Würmer. Daneben standen leere Flaschen. Auf dem Teppich waren Kippen ausgetreten worden und hatten Brandlöcher hinterlassen. Auch hier waren die Wände zugesprayt. Die Kids hatten sich prächtig amüsiert, vor allem mein Freund Getto Gangsta. Einen Teil der Fotos an der Wand hatte er mit übersprüht, dennoch konnte ich die meisten der Personen darauf identifizieren. Hans mit Götz George. Mit Bruno Ganz. Otto Sander. Mit Inge Meysel bei einer Preisverleihung. Mit einer Filmcrew vor dem Brandenburger Tor. Mit einem ehemaligen Kultusminister. Irgendwo mussten hier auch ein paar Kartons mit seinen Preisen stehen. Er war ein angesagter Theaterschauspielergewesen, bevor er sich nach dem Tod von Neles Mutter aus dem Geschäft zurückgezogen hatte.
Ich trat zum Fenster und versuchte, es zu öffnen. Die Scheiben waren nicht nur zugesprayt, sondern auch mit einer Holzplatte verbarrikadiert. Die Kids waren auf Nummer sicher gegangen, um nicht die Stars in einem Happy-Fucking-Video ihrer Freunde zu werden. Ich dagegen passte nicht so gut auf: Statt die Tür zu verrammeln und die Fotos zu entsorgen, machte ich mich am Fenster zu schaffen, um Licht in die Sache zu bringen. Nach hartem Kampf gab der Rahmen schließlich nach. Ich öffnete das Fenster und wurde mit Sonnenstrahlen belohnt. Ein Pyrrhussieg – denn als ich mich umdrehte, stand Nele im Zimmer und musterte ein Foto nach dem anderen. Ich wollte etwas sagen, doch mir fiel nichts Belangloses ein.
Ein Motorrad riss mich aus meinen Gedanken. Ich packte den Fensterriegel, rüttelte daran herum und warf Nele einen gestressten Blick zu.
»He, das muss Anita sein, gehst du, oder …«
Ich bearbeitete fluchend den Riegel. Kaum war sie draußen, legte ich los. Meine Arme waren bloß verwischte Schatten. Keine Minute später waren alle Fotos
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