Nelson DeMille
auf der man sich Luftaufnahmen von Häusern und Gewerbegebieten im ganzen Land anschauen konnte. Im Zuge meiner Arbeit für einen amerikanischen Mandanten war diese Seite einmal nützlich gewesen, und im Zuge eines Nostalgieanfalls hatte ich mir vor ein paar Wochen Stanhope Hall und Alhambra angesehen.
Binnen einer Minute präsentierte sich mir ein Luftbild von Stanhope Hall, das vergangenen Winter aufgenommen worden war und das riesige Herrenhaus zeigt. Ich sah das Heckenlabyrinth, den Liebestempel, den Tennisplatz, den Obstgarten und selbst die überwucherte und ausgebrannte Ruine von Susans Spielhaus aus Kinderzeiten, das etwa halb so groß gewesen war wie ein echtes Cottage.
Ich zoomte aufs Pförtnerhaus, aufs Gästehaus und schließlich auf die nahe Stallung. Dann schwenkte ich zu Alhambra hinüber, sah die schnurgerade Reihe der Weymouthskiefern, die die Grundstücke voneinander trennte, und dachte an Susans Ausritte von Stanhope Hall zur benachbarten Villa.
Auf diesem unlängst aufgenommenen Foto war Bellarosas geschleifte Villa natürlich ebenso wenig zu sehen wie die nachgemachten römischen Ruinen oder der spiegelnde Teich; man sah die roten Ziegeldächer der Minivillen, die angelegten Grundstücke und die Straßen, die sie miteinander verbanden.
Ich zoomte auf Anthonys Haus mit dem großen Patio und dem überdimensionalen Pool, dann kehrte ich zu den Kiefern, dem Stanhope'schen Anwesen und dem Gästehaus zurück.
Notiz an mich selbst: Wenn ich querfeldein zu Anthony Bellarosas Haus joggen würde, wäre ich in knapp fünf Minuten da; und Anthony Bellarosa brauchte genauso lange, wenn er hierherkommen wollte.
50
Die Gegensprechanlage summte, und ich nahm den Hörer ab und fragte: »Sind sie in Ohnmacht gefallen oder gegangen?«
»Weder noch. Aber sie haben den ersten Schock überwunden.«
»Sind sie bereit für den nächsten, wenn ich ihnen sage, dass wir keinen Ehe vertrag abschließen?«
»Wir wollen es bei einem Schock pro Tag bewenden lassen. Du bist morgen dran.«
»Na schön. Wo bist du?«
»In der Küche, mache Martini Nummer zwei, aber in einer Minute bin ich im Wohnzimmer. Ich habe dir einen steifen Drink gemacht.« »Gut. Bis gleich.«
Ich verließ das Büro und ging in die Diele. Ich nahm mir eine Minute Zeit, um mich an ihren geballten Blödsinn im Lauf der letzten zwanzig Jahre zu erinnern, und betrat dann das Wohnzimmer.
William und Charlotte saßen auf zwei nebeneinanderstehenden Sesseln, und Susan saß ihnen auf einem Zweisitzer gegenüber. Zwischen ihnen stand ein Kaffeetisch voller Platten mit Horsd' œuvres, und ich sah, dass William und Charlotte frische Martinis vor sich stehen hatten und Susan Weißwein trank.
Ich dachte daran, mit ausgestreckten Armen auf sie zuzustürmen und »Mom! Dad! « zu brüllen, sagte aber stattdessen einfach »Hallo« und ging zu ihnen.
Susan stand auf, dann erhoben sich William und Charlotte, wirkten aber ganz und gar nicht begeistert. Um die alten Herrschaften zu ärgern, küsste ich zuerst Susan, dann bot ich Charlotte die Hand zum Gruß, worauf sie mir eine nasse Nudel gab, und anschließend William, der mir einen kalten Thunfisch reichte. »Hattet ihr einen angenehmen Flug?«, fragte ich.
»Einigermaßen«, erwiderte William.
»Setz dich hierher, John, neben mich«, sagte Susan. »Ich habe dir einen Wodka mit Tonic gemacht.«
»Danke.« Ich setzte mich neben sie auf den Zweisitzer, und sie nahm meine Hand, was Mom und Dad zusammenzucken ließ.
Im Hintergrund lief leise Schubert, und das Zimmer war mit Blumen geschmückt und von Kerzen erleuchtet. Ähnlich wie in einem Bestattungsinstitut.
Ich nippte an meinem Drink und stellte fest, dass es pures Tonic war.
William der Farbenblinde trug eine alberne grüne Hose, ein scheußliches gelbes Golfhemd und ein quietschrosa Leinensportsakko. Charlotte hatte eine hellrosa Hose und eine kotzgrüne Bluse an, und beide trugen diese entsetzlichen weißen orthopädischen Laufschuhe. Ich wunderte mich, dass man sie ins Flugzeug gelassen hatte.
William, so stellte ich fest, war in den letzten zehn Jahren kaum älter geworden, er hatte volles Haar und benutzte immer noch das gleiche Färbemittel. Charlottes Gesicht dagegen war sehr gealtert und von einem Netz tiefer Runzeln durchzogen, die aussahen wie Risse in einer Fassade. Sie hatte ihre Haare naturhellrot färben lassen und trug Ohrringe, eine Halskette und ein Armband, alles aus Korallen und Muscheln, sodass sie aussah wie ein trockengelegtes
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