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Nemesis 04 - In dunkelster Nacht

Nemesis 04 - In dunkelster Nacht

Titel: Nemesis 04 - In dunkelster Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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einer Extremsituation wie der meinen bedurfte, um endlich ausbrechen zu können?
    Und Extremsituation hin oder her – durfte es wirklich so einfach sein, seine Menschlichkeit, seine Fähigkeit und seine Neigung, mitzufühlen und mitzuleiden abzustreifen wie ein lästiges Kleidungsstück? Wann überschritt ich die Grenzen des Verständlichen, rational Erklärbaren und betrat den Boden der Perversion, und was würde morgen geschehen? Würde ich dieses mir bislang fremde, durch und durch böse Gesicht meiner eigenen Persönlichkeit einfach wieder ablegen, verdrängen, schnell vergessen können? Würde ich morgen wieder der freundliche, etwas schüchterne junge Mann sein, als der ich hierher gekommen war? Der charmante Verlierertyp, der sein Leben nicht auf die Reihe brachte und keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, was durchaus zu den Gründen zählen konnte, weshalb ich bislang keine nennenswerten Ziele erreicht hatte? Oder hatte ich mir mein eigenes Ich, meinen eigenen Charakter all die Jahre lang nur eingeredet, mir selbst jemanden vorgespielt, der ich gerne sein wollte, in Wirklichkeit aber nie war und auch nie sein würde? Würde diese eine Nacht letzten Endes vielleicht reichen, mir diese Maske, die ich mehrere Jahrzehnte vor meinem wahren Gesicht getragen hatte, herunterzureißen, sodass für einen jeden und für mich selbst der Blick auf die Bestie, die sich dahinter verborgen hatte, frei war?
    Ich tickte nicht mehr ganz richtig, begann ich im Stillen selbst auf mich einzureden. Unter besonderen Umständen durfte man sich nicht an den Maßstäben der Normalität messen, und wenn diese Umstände hier und jetzt keine besonderen waren, dann gab es keine solchen. Ich hatte den Tod zweier Menschen miterleben müssen, dreier, wenn man den Anwalt in der Taube mit einrechnete, und vierer, wenn ich davon ausging, das von Thun seinen Sturz in den Brunnenschacht nicht überlebt hatte. Es war vollkommen normal, dass meine Nerven blank lagen und mein Verhalten außer Kontrolle geriet. Sobald ich das alles hier überstanden hatte, würde ich mich für zwei, drei Wochen an irgendeinen kalifornischen Strand legen, mich vierundzwanzig Stunden am Tag volllaufen lassen und alles anbaggern, was einen Rock tragen könnte. Das war immer noch die beste Therapie. Danach würde ich wieder ganz der Alte sein und wahrscheinlich auch auf die Schnapsidee verzichten, Judith zu mir in die Staaten zu holen, weil ich feststellen würde, dass sie eigentlich nicht mein Typ war und es auch nie werden würde, weil sie mir nämlich schlichtweg zu dick war, genau wie Carl, dieses wabernde Etwas, und weil ich mich nicht wirklich in sie verliebt hatte, sondern in einer Extremsituation einfach nur der körperlichen Nähe irgendeines menschlichen Wesens bedurft hatte. Ganz genau darauf lief es hinaus, nur so und nicht anders würde es sein.
    Wir hatten die Treppe zurückgelegt und den Flur, an den unsere Zimmer angrenzten, erreicht. Hier oben brannte nur eine einzige Glühbirne, die aber in ihrer Aufgabe, den Gang zu erhellen, kläglich versagte, und mit dem gelblichen Licht, das sie verstrahlte, eher noch die Dunkelheit betonte, als dass sie Farben, Formen und Schatten sichtbar werden ließ. Kaum dass wir den Flur betreten hatten, erschien Ellen in ihrer Zimmertür, als ob sie nichts anderes getan hätte, als auf uns zu warten und unseren näher kommenden Schritten zu lauschen, und ich zog fast erschrocken die Hand zurück, mit der ich gerade ausgeholt hatte, um Carl doch noch einen groben Stoß zwischen die Schulterblätter zu verpassen, damit er ein bisschen mehr spurte. In der Rechten hielt sie das große Tranchiermesser, für welches Judith vorhin eigentlich das passende Los in Form eines Streichholzes gezogen hatte.
    »Warum habt ihr so lange gebraucht?«, fuhr die Ärztin uns verärgert an. »Verdammt, ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
    »Frank war eine Weile unschlüssig, ob er lieber mein Henker oder mein Folterknecht sein wollte«, antwortete Carl, bevor ich auch nur Luft holen konnte, um ihr zu antworten. Auf einmal hörten seine Knie auf zu zittern, und seine Stimme klang überhaupt nicht mehr unsicher oder gar ängstlich. Offenbar rechnete er fest mit Ellens Beistand und Unterstützung. Ich bereute, dass ich das restliche Klebeband nicht darauf verwendet hatte, ihm einen ordentlichen Knebel zu verpassen. Er würde versuchen, Zwietracht zwischen uns zu säen, daran hatte ich keinen Zweifel, und wie der Teufel es wollte, schien das

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