Nenn mich einfach Superheld: Roman (German Edition)
hatte nicht gehört, dass ihre Mutter angeklopft hatte. Vielleicht hatte sie auch gar nicht angeklopft. Sie trug ein Tablett, auf dem zarte weiße Teetassen mit Goldrand und eine dazu passende Kanne standen, und setzte es auf Jannes Bett ab. Dabei sah sie mit aufgerissenen Augen in mein Gesicht, als gäbe sie sich große Mühe, Jannes entblößte Beine zu ignorieren.
»Oder möchten Sie lieber Kaffee?«
Sie tat mir unglaublich leid. Ihr Leben musste eine ziemliche Hölle sein. Janne wäre sicher auch mit funktionierenden Beinen nicht so leicht zu ertragen gewesen, aber von ihrem Rollstuhl aus konnte sie jeden in kürzester Zeit in ein Wrack verwandeln.
Ich empfand die Bereitschaft, durch ihre Hand zu einem Wrack zu werden.
»Sind Sie auch so zufrieden mit der Gruppe?« fragte Jannes Mutter, nachdem sie einen Punkt gefunden hatte, auf den sie ihren Blick richten konnte: die Orchidee auf der Fensterbank, die ich in ihrer Pracht für Plastik gehalten hätte, wenn nicht eine abgefallene Blüte neben dem Topf gelegen hätte.
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
»Janne ist seitdem wie ausgetauscht«, sagte Jannes Mutter. »Ich bin wirklich so froh … Ich muss gestehen, ich hatte meine Zweifel. Aber er hat mich überzeugt.«
»Wer?« fragte Janne scharf, als wüssten wir die Antwort nicht.
Jannes Mutter blinzelte.
»Was hat er Ihnen eigentlich erzählt, was wir so vorhaben?« fragte ich möglichst sanft, weil sie mir so leid tat.
»Hat er euch das nicht selbst gesagt?« fragte Jannes Mutter verunsichert.
Janne und ich wechselten Blicke.
»Angedeutet«, murmelte ich.
»Wenn es uns nicht gefällt, steigen wir wieder aus«, sagte Janne.
Ihre Mutter sah sie kopfschüttelnd an. »Ich glaube nicht, dass das geht«, sagte sie. »Nein, liebe Kinder, das glaube ich wirklich nicht.«
Als ihre Mutter die Zimmertür hinter sich schloss, rollte Janne wieder auf mich zu. Ich wunderte mich noch, dass sie dabei die Augen geschlossen hielt, und ob sie jetzt vorhatte, mich über den Haufen zu fahren, und ob man von so einem Rollstuhl so schwer verletzt werden konnte, dass man selbst einen brauchte.
Als sie mit kühler Stimme mitteilte, dass ich sie jetzt küssen dürfe, wenn ich immer noch wolle, begriff ich alles.
Ich sagte ihr nicht, dass sie ein verlogenes, gelangweiltes Biest war, das wie eine fleischfressende Pflanze darauf lauerte, dass jemand in seine Nähe kam. Ich sagte ihr nicht, dass ich keine Lust hatte, das passende Fußvolk für die Hauptrolle zu bieten oder für ihr Leben, oder was sie sich sonst noch in den Kopf gesetzt hatte. Ich sagte einfach gar nichts. Ich beugte mich zu ihr herunter und küsste sie auf den Mund. Sie musste dann doch ziemliche Angst gehabt haben, denn ich spürte ihr Zittern, und die Zähne, die ich mit der Zunge auseinanderdrückte, klapperten ein wenig.
Ihre Lippen schmeckten nach dem Früchtetee, den ihre Mutter ausgeschenkt hatte, bevor sie die merkwürdigen Sätze gesprochen hatte. Ich dachte an Lucy, das letzte Mädchen, das ich vor Janne geküsst hatte. Ich hatte Lucy danach nicht mehr sehen wollen. Und war mir immer noch sicher, dass ich uns beiden damit einen Gefallen tat, ihr einen viel größeren als mir. Manchmal hatte ich ihr Facebook-Profil angeklickt, bevor ich meins gelöscht hatte, aber inzwischen mied ich alle Orte, die wir zusammen besucht hatten, die virtuellen eingeschlossen.
Ich versuchte mich zu erinnern, wie Lucys Mund geschmeckt hatte. Sie war, im Gegensatz zu Janne, ein liebes Mädchen gewesen, nett und hilfsbereit und sonnig, vielleicht nicht ganz so schön, aber so viel Wärme ausstrahlend, dass ich ständig grundlos lächeln musste, wenn sie bei mir war. Sie hatte mich im Krankenhaus besuchen wollen, aber ich hatte niemanden reingelassen. Sie hatte in den Monaten danach noch angerufen und Briefe geschrieben, die zuerst mit »Kuss, Lucy« endeten, später mit »Liebe Grüße«, und irgendwann ganz ausblieben. Ich hatte ihr eine einzige E-Mail geschrieben, in der ich Schluss machte, falls es überhaupt noch etwas gab, was man beenden konnte. Darauf hatte ich keine Antwort mehr bekommen und war darüber gleichzeitig erleichtert und enttäuscht.
Janne hatte aufgehört zu zittern. Meine Wange spannte, und der ganze Vorgang hatte nichts mit den Küssen von früher zu tun. Ich wurde wütend. Ich packte Jannes Schultern, drückte sie fest zusammen. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mich nicht beherrschte, könnte ich diese zarten Knochen zwischen meinen
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