Neobooks - Hinter verborgenen Pfaden: Der geheime Schlüssel I (German Edition)
als Feodor seinen Arm unter ihre Schultern schob. Ihr Kopf sank kraftlos gegen seine Brust. Philip raffte mit zitternden Händen ihr blutiges Kleid, bis der Vater den anderen Arm unter ihre Beine geschoben hatte. Er wünschte sich, er könnte dieses Wesen genauso in seinen Armen halten. Wehmütig sah er seinem Vater nach, bis er hinter der nächsten Tür verschwunden war.
Das Kind begann zu weinen, und Philip besann sich auf seine Aufgabe. Vorsichtig hob er das winzige Geschöpf hoch. Bisher hatte er ihm wenig Beachtung geschenkt, doch als er es jetzt ansah, hörte es auf zu weinen und blickte ihm aus veilchenblauen Augen entgegen.
Als die Zwillinge zur Welt gekommen waren, war Philip zwölf Jahre alt gewesen. Er erinnerte sich noch gut an diese Zeit. Er konnte sich aber nicht erinnern, dass sie ihn jemals so angesehen hätten.
»Ich helfe dir«, sagte er feierlich. Es war ein Versprechen. Ein Gelübde, ähnlich dem, das zur Weihe eines Kindes am Tag der Wintersonnwende in der Kirche abgelegt wurde, und nicht weniger bindend. Zufrieden gähnte das Kind, und Philip folgte dem Vater die schmale Treppe hinauf.
Dieses Feenwesen in seinem Bett zu sehen brachte Philip ein weiteres Mal vollends durcheinander. Einerseits war er froh und stolz und sehr zufrieden mit seiner Rolle als Zweitretter und edelmütiger Kavalier, der sein Schlafgemach hergab, andererseits war er verlegen und wusste nicht, ob dieses wunderschöne, edle Wesen nicht deutlich bessere Betten gewohnt war. Außerdem fürchtete er, dass er und sein Vater etwas falsch machen könnten, was womöglich ihren Tod bedeuten würde.
»Leg das Kind wieder auf ihren Bauch«, sagte Feodor. Philip sah es noch einmal an, und wieder begegnete ihm dieser klare, wissende Blick. Auch als es auf dem Bauch seiner Mutter lag, ließ es Philips Blick nicht los.
»Mach’s gut, Elbchen«, flüsterte er und strich ihm sanft über die Wange. Dann trat er einen Schritt zurück und überließ alles Weitere seinem Vater.
Gemeinsam verließen sie das Zimmer. Hinter der Tür blieben sie stehen und sahen sich an. Alle Anspannung fiel von ihnen ab. Plötzlich mussten sie lachen.
»Und jetzt stehlen wir das Nachthemd des Königs«, kicherte Philip.
»Aber das wird dem nackten Kind nicht passen«, gab Feodor trocken zurück. »Auf dem Dachboden müsste noch was von euch rumliegen.«
Der gewohnte staubig stickige Geruch auf dem Dachboden hüllte ihn ein, ebenso die Hitze, die sich unter den Schindeln staute.
Eine Weile kramten sie in Schränken und Schubladen, da sie aber nicht das fanden, was sie suchten, kamen sie immer näher an Philips Versteck heran.
Dass seine Mutter davon wusste, war seit heute klar, aber in wenigen Minuten würde auch der Vater das Geheimnis kennen, dachte Philip wehmütig.
Der durchstöberte gerade sämtliche Schubladen, ohne jedoch weiter auf das Deckennest zu achten.
Philip hielt den Atem an.
»Pal’dor«, las der Vater vor.
»Ich … äh …« Aber Feodor hatte das Buch bereits zurückgelegt.
»Das solltest du lesen. Vielleicht steht was drin, was wir wissen müssen.«
Etwas verdutzt schaute Philip seinen Vater an. »Lehrer Theophil hat es mir erst heute mitgegeben.«
»Weiser Theophil! Ich glaube ja schon lange, dass er ein klein wenig in die Zukunft sehen kann.«
Plötzlich sah Philip in einer Nische etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. »Ich hab was«, rief er und zerrte eine verstaubte Wiege hervor.
»Wo das war, wird bestimmt auch der Rest sein.« Feodor begann die Schränke in der Nähe zu durchwühlen und fand bald darauf einen Leinensack, in dem viele kleine Hemdchen und Wickeltücher eingelagert waren.
Sie stiegen die Treppe hinunter und breiteten die reiche Beute auf dem Küchentisch aus. Obwohl die Sachen in einem Leinensack im Schrank aufbewahrt worden waren, war das meiste ziemlich angestaubt. Feodor kratzte sich am Kopf und begann die Kleidung zu sortieren. Als er alles hatte, was er brauchte, klemmte er es sich unter den Arm und ging nach oben. Philip konnte nicht widerstehen, seinem Vater zu folgen.
Feodor legte das Kind auf den Tisch, der unter dem Fenster stand, und schälte es aus den Fetzen, in die es notdürftig gewickelt war. Philip stutzte. Das, was er sah, war nicht nur etwas Besonderes, weil es ein kleiner Elbe war, sondern auch ein Mädchen.
Und ein kleines Mädchen hatte es unter diesem Dach noch nicht gegeben.
Beim Anziehen jammerte es, und er fürchtete, der Vater mit den großen Händen könnte ihm weh
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