Neonträume: Roman (German Edition)
in der einen Hand einen Stapel Akten, in der anderen mein Handy, da kommt so ein Büroknecht und, damn it, will mir die Sales Reports geben, verstehst du? Da hab ich sie mir mit den Zähnen geschnappt.«
» Ach, du Armer! Wie ein kleines Hündchen!« Es klingt, als würde sie aufschluchzen.
» Oh yeaaah… So in der Art. (Dumme Nuss, selber kleines Hündchen!) Und jetzt blutet es, you know… Weißt du, was man in so einem Fall macht?«
» Oh… das kann…das kann gefährlich sein! Auf keinen Fall darfst du die Blutung eigenmächtig stillen! Das kann zu einer Blutvergiftung führen! Ich rufe sofort meine Freundin an, die ist Ärztin. Ich melde mich in zwei Sekunden bei dir!«
Wenn man sich einmal auf andere verlässt, ist man verlassen. Die korrekte Beschreibung meiner augenblicklichen Situation müsste lauten: Er stürzte in abgrundtiefe Verzweiflung. Aber plötzlich fällt mir ein, dass ich irgendwo mal gehört habe, bei wundem Zahnfleisch soll man gurgeln. Ich durchwühle die Ablage vor dem Badezimmerspiegel, bis ich so ein beschissenes Fläschchen mit einem rosa Zeug drin finde. Auf dem Etikett ein Zahn und die Behauptung, der Inhalt der Flasche würde dem Zahnfleisch » zauberhafte Winterfrische« bescheren. Also genau, was ich brauche. Vermutlich hat irgendeine Braut diese Wundertinktur bei mir vergessen. Zwei Minuten lang spüle ich mein Zahnfleisch mit der rosa Minzbrühe (rosa Minze!) und bilde mir ein, das Zahnfleisch beruhige sich. Als ich endlich meine Wohnung verlassen kann, ruft Lena wieder an.
» Andrej, meine Freundin hat gesagt, du musst mit einer beruhigenden Lösung spülen. Ich habe dir hier ein paar Mittel aufgeschrieben, warte mal…«
» Schätzchen, ich danke dir, Honey! Aber ich hab schon gegurgelt!«
» Was? Womit denn?«
» Mit, äh, mit Kräutern.«
» Was für Kräuter?« Lenas Verwunderung wächst. Als wäre sie die Einzige, die weiß, dass man in so einem Fall gurgeln muss!
» Äh, unsere Sekretärin hier, am Reception Desk, weißt du, die hat mir was aus der Apotheke besorgt.«
» Und? Hat es aufgehört?«
» Was?«
» Zu bluten!«
» Ach das! Klar, I’m okay. Alles ist okay, Honey. Es hat aufgehört.«
» Na prima.« Sie seufzt erleichtert auf. » Und sonst, was gibt es Neues? Kommst du wirklich nicht zu der Finissage?«
» Ich kann nicht! Hör mal, Schatz, in fünf Minuten fängt mein Meeting an, und ich muss noch ein paar Papiere ausdrucken. Drop me a line! Ruf mich an!«
» Du hast immer so viel zu tun!«, stöhnt Lena. » Wann sehen wir uns?«
» Morgen. Maybe. Das heißt, ganz bestimmt morgen. Ich rufe dich in einer Stunde an. Meine Sonne!«
» Ich liebe dich!«
» I love you, too. Ich bete dich an.«
De r diskrete Charm e de s Andre j M.
Auf der Straße angle ich mir ein Schwarztaxi, nenne die Adresse und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen. Während der Fahrt blättere ich in meinem Organisator und chatte parallel mit Vera, der Sekretärin der Chefredaktion, die mir die neuesten Informationen aus der Redaktion übermittelt. Ziemlich neu ist für mich die Nachricht, dass die Umbruchkorrekturen für die nächste Ausgabe schon im Gange sind. Dabei habe ich das Restaurant-Rating noch nicht fertig, meine Kolumne auch nicht, und bei der Hälfte der Fotos für die Lifestyle-News fehlen die Bildunterschriften. Mit einem Wort, alles irgendwie kompliziert.
An der Belorusskaja werden wir von einer halbzerbröselten Schrottkarre geschnitten, einem Sechser oder Siebener Lada oder vielleicht auch ein Wolga, ich kann die Dinger immer noch nicht auseinanderhalten. Jedenfalls, der Fahrer und ich, wir brüllen nahezu gleichzeitig los:
» He, du Arschloch, pass doch auf, wo du hinfährst!«, schreit er aus dem Fenster
» He, du Arschloch, pass doch auf, wen du fährst!«, schreie ich ihm ins Ohr.
Der Fahrer sieht mich an, fährt an den Straßenrand, stoppt und sagt ganz ruhig:
» Schieb deinen Arsch aus meinem Auto.«
» Wie bitte?«, frage ich.
» Du sollst deinen verschissenen Arsch aus meinem Auto schieben, du Wichser! Und zwar pronto, ehe ich aus deiner Nase Brei mache.«
Ich klemme mir die Tasche mit den Schallplatten unter den Arm, steige aus und knalle die Tür zu. Mit quietschenden Reifen startet er durch, obwohl ich den Türgriff noch in der Hand habe! Ich warte, bis er weit genug weg ist, dann brülle ich ihm hinterher:
» Scheiß Psychopath! Durchgeknallter Schizo! Du gehörst in die Anstalt! Mann, du brauchst einen Arzt, aber dringend! Wenn du dir
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