Neonträume: Roman (German Edition)
als dieser Blick dann hinüber zur anderen Seite des Puschkin-Platzes schweift, ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass mich zum ersten Mal in meinem Leben die vielen Obdachlosen nicht nerven, die dort herumhängen und leere Flaschen sammeln, und auch nicht die Männer, die am Puschkin-Denkmal stehen und kümmerliche Blumensträuße feilbieten.
Bevor ich mich zu diesen Typen aufmache, die ich wegen ihrer schwarzen Messe interviewen will, gebe ich noch schnell mein Diktaphon mit dem Bucharow-Interview in der Redaktion ab, treffe mich kurz mit Rita, rufe Lena an und bestätige unsere Verabredung, schicke eine SMS mit großartigen Entschuldigungen an Marina und empfange ihre kurze, aber eindeutige Antwort, deren Inhalt allerdings nicht zitierfähig ist. Bis der Film anfängt, bleiben noch drei Stunden. Ich fahre mit der Metro.
Auf der Soljanka-Straße komme ich wieder ans Tageslicht, wende mich nach rechts und gelange in einen Hof, der an drei Seiten von massiven Ziegelhäusern vorrevolutionärer Bauart umschlossen wird. Ich überprüfe die Adresse in meinem Notizbuch und betrete den dritten Aufgang.
Im dritten Stock klingele ich an der Wohnung Nummer 66 dreimal. Ein ziegenbärtiger Mann öffnet mir, gekleidet in das Überbleibsel eines Kimonos oder einer Soutane, unmöglich, das genau festzustellen. Da das Teil schwarz ist, wirkt es am ehesten wie eine Soutane.
» Wer bist du?«, fragt er und schiebt sich ein paar verfilzte Zotteln hinters Ohr.
» Andrej Mirkin vom Beobachter. Man hat mir gesagt, ich werde erwartet«, sage ich und spüre ein unangenehmes Brennen ganz tief im Innern.
» Jeder wird hier erwartet«, murmelt der Ziegenbart und tritt zur Seite. Bevor er die Tür hinter mir schließt, schaut er im Treppenhaus nach, ob da nicht noch jemand ist.
Ich trete in einen langen, engen Korridor, dessen Wände von oben bis unten mit bizarren Graffiti bedeckt sind wie der Körper eines Tätowierten. Wirre Zickzackbuchstaben, aus einem Alphabet, das noch kein Mensch entziffert hat.
Der Ziegenbärtige führt mich in ein Zimmer, spärlich eingerichtet mit einem abgetretenen Teppich, einem verbeulten Ledersessel gleich neben der Tür und einer Art Diwan in der Ecke neben dem Fenster. Zu meiner Erleichterung weist er mir den Sessel an, denn die Vorstellung, mich auf diesen Diwan setzen zu müssen, auf dem sich wahrscheinlich schon Generationen von Junkies gewälzt oder ausgekotzt haben, behagt mir gar nicht.
» Sind Sie der, den ich interviewen soll?«, frage ich ihn.
» Ich?« Der Ziegenbart bricht in ein Lachen aus, das sofort in ein heiseres Husten übergeht. » Nein, Sie suchen den Meister.«
Der Blick seiner grauen, wässrigen Augen ist schwer zu ertragen, also schaue ich mich lieber im Raum um. Die Wände sind mit sonderbaren Bildern bedeckt, die Tiere mit menschlichen Gesichtern darstellen. Ineinander verschlungene Leiber mit detailverliebt gemalten Genitalien, männlichen wie weiblichen, dazwischen Kreuze, Halbmonde und andere religiöse oder magische oder pseudo-magische Symbole.
» Ich male auf Bestellung. Manche Kunden holen ihre Bilder nicht ab, manche zahlen nicht pünktlich. Dann behalte ich die Bilder.« Er brauchte nicht einmal mein Stichwort, um über seine geniale Malerei zu quatschen. » Wer gefällt dir besser, die Frauen oder die Typen?«
» Mir? Keine Ahnung«, antworte ich wahrheitsgemäß.
» He, he. Was heißt hier keine Ahnung? Sowas weiß man doch. Du musst doch wissen, mit wem du’s lieber machst, mit Weibern oder mit Typen.«
Verdammter Junkie. Ich habe das unbestimmte Gefühl, in einer üblen Falle zu sitzen. Diese Wesen haben nicht mal entfernte Ähnlichkeit mit Menschen, was soll mir da gefallen? Ich muss hier raus, und zwar so schnell wie möglich.
» Eigentlich mit Frauen. Im wirklichen Leben jedenfalls… Aber auf Bildern…«
» Sind Bilder kein Leben?«
Zum Glück betritt in diesem Moment ein hochgewachsener, aschblonder Mann in schwarzem Rollkragenpullover das Zimmer.
» Sind Sie der Mann von der Zeitung?«, fragt er mit sonorer Baritonstimme.
» Ja. Und Sie sind der Meister?«
Der Mann nickt, dreht sich um und verlässt das Zimmer. Ohne zu überlegen folge ich ihm. Wir gehen zum anderen Ende des Korridors und betreten ein kleines Kabinett, in dem zwei Sessel neben einem Zeitungstischchen stehen. Über dem Tischchen hängt ein großer Spiegel in einem schweren Holzrahmen. Wir setzen uns.
» Andrej, hat Vera Ihnen schon etwas über uns erzählt?«
» Äh… nein.
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