Nephilim
Kind, er würde Antonio diese Scham ersparen – wenigstens diese.
»Nein«, erwiderte er, obgleich er wusste, dass es sinnlos war. »Wir werden es schaffen! Wir werden den Nebel der Ovo durchwandern, sobald du wieder bei Kräften bist, und auf der anderen Seite … «
Antonio hustete leicht, Blut rann ihm aus dem Mundwinkel, doch er schien es nicht zu bemerken. »Auf der anderen Seite ist das Leben«, flüsterte er kaum hörbar. »Dort ist das Licht. Ich werde es nicht mehr sehen, Nando, ich werde hier sterben inmitten meiner Mohnblumen, und es gibt nichts, was du dagegen tun kannst.«
Nando umfasste seine Hand stärker, er presste die Zähne so sehr aufeinander, dass es schmerzte.
»Verzweifle nicht daran«, sagte Antonio. »Ich bin ein Engel, hast du das vergessen? Ich werde nach Andra Amyon reisen, in die Lande der Nebel und des ewigen Frosts, in das Reich ohne Zeit – in die Hallen der gefallenen Engel. Weine, Nando – doch weine nicht um den Tod. Weine um das Leben.«
Entgegen seinen Bemühungen spürte Nando, wie eine Träne seine Wange hinabrann. Er wischte sie nicht fort, sie fiel auf Antonios Hand und verwandelte dessen Haut an der Stelle in schimmerndes Gold.
»Warum hast du mich nicht getötet?«, flüsterte er verzweifelt. »Jetzt wurden die Dämonen der ersten Höllenkreise entfesselt, Bantoryn wurde zerstört, Noemi und viele andere Nephilim befinden sich in Bhroroks Gewalt, Kaya ist ganz allein im halb zerstörten Mal’vranon. Jetzt ist alles verloren, und … «
Antonio drückte schwach seine Hand. »Nein«, erwiderte er sanft. »Du kannst dem Schrecken ein Ende setzen. Du wirst deinen Weg gehen. Du wirst das Leid deines Volkes beenden.«
Nando schüttelte den Kopf. »Nein, das werde ich nicht. Hast du nicht gesehen, was gerade geschehen ist? Ich konnte sie nicht retten, keinen von ihnen! Stattdessen habe ich die Kontrolle über meine Macht an den Teufel verloren! Das hier ist eine Welt für Helden, doch ich bin kein Held!«
Antonios Augen glänzten in mattem Schein, noch immer lag das Lächeln auf seinen Lippen. »Du glaubst, dass ein Held stets tapfer und mutig sein muss und niemals scheitert. Doch es ist an der Zeit, dass du dich von diesem Bild trennst, denn es ist falsch. Es ist ein Bild, das dir von der Welt der Menschen eingepflanzt wurde, einer Welt, die den Blick verloren hat für sich selbst und ihre wahren Helden. Du glaubst, dass jemand, der in der Lage ist, den Teufel zu bezwingen, auch einen Weg gefunden hätte, seine Eltern zu retten, nicht wahr?«
Nando erschrak, er wusste selbst nicht, warum. Es schien ihm, als würde die goldene Schwärze in Antonios Augen sich einen Weg in sein Innerstes suchen, als würde sie ihn von innen heraus erhellen und sichtbar machen, was er verbergen wollte. Langsam nickte er.
»Erinnerst du dich daran, wie ich dir von meinem Weg in die Schatten erzählte?«, fragte Antonio kaum hörbar. »Von dem Dorf der Nephilim?« Er wartete, bis Nando erneut genickt hatte, und fuhr dann fort: »Sind diese Nephilim für dich Versager? Sind sie Versager für dich, weil sie scheiterten? Sind sie schuld daran, dass ihre Kinder starben, dass ihr Dorf niederbrannte und ihre Familien und Freunde den Tod fanden durch die Hand der Engel?«
Nando senkte den Blick. Vor seinem inneren Auge standen die Gesichter jener Nephilim, die Antonio ihm damals gezeigt hatte und die sich in seine Gedanken eingebrannt hatten wie eine eigene Erinnerung. Er schüttelte den Kopf.
»Nein«, bestätigte Antonio seinen Gedanken. »Denn sie taten, was in ihrer Macht stand, und sie taten es mit einer Kraft, die mich noch heute schaudern lässt – mich, ein Geschöpf aus Sehnsucht und Eis. Du weißt nicht, welche Stärke in dir liegt, doch nun … nun ist es an der Zeit, dass du sie erkennst.«
Er hustete, Nando ertrug den Schmerz, der sich bei Antonios Anblick durch seine Brust zog, und ließ seine Hand nicht los.
»Sein Name war Aldros«, begann Antonio kaum hörbar, und Nando fuhr zusammen, als der Name des einstigen Teufelssohns durch die Mohnblumen wisperte. Er wollte nichts von ihm hören, nicht jetzt, nicht in den letzten Augenblicken, die Antonio und er noch zusammen hatten. Doch der Engel sah ihn an, reglos und ruhig, und Nando hörte ihm zu, als er weitersprach: »Er kam aus der Oberwelt wie du, und wie du wurde er mein Schüler. Er war außerordentlich talentiert, er lernte schnell, und ich erzählte ihm von Bhalvris und der Möglichkeit, die Nephilim zu befreien,
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